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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0366
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Stellenkommentar GD Irrthümer, KSA 6, S. 92-93 347

1887, 31: „les peuples primitifs voient des intentions derriere les phenomenes.
Des amis ou des ennemis les entourent; la lütte de la vie devient une bataille
en regle avec des allies imaginaires contre des adversaires souvent trop reels.
Comment pourraient-ils comprendre l'unite profonde de la nature, qui exclut,
dans la chaine des choses, toute individualite, toute independance?" („die pri-
mitiven Völker sehen Absichten hinter den Erscheinungen. Freunde oder
Feinde umgeben sie; der Kampf des Lebens wird ein geregelter Kampf mit
imaginären Verbündeten gegen oft zu reale Gegner. Wie könnten sie die tiefe
Einheit der Natur erfassen, die in der Kette der Dinge jede Individualität, jede
Unabhängigkeit ausschließt?").
93, 12 f. Beweis der Lust („der Kraft") als Criterium der Wahrheit.] Während
„Beweis der Kraft" ursprünglich theologisch konnotiert ist (vgl. NK 57, 6), wird
der Terminus hier physiologisch revidiert: Fere 1887, 64 hatte in seinen klini-
schen Experimenten gezeigt, dass mit der Zunahme des Lustempfindens das
Machtempfinden und zugleich die tatsächliche Kraft steigen („augmentation
de l'energie"). Vgl. NK KSA 6, 204, 29 f.
N.s Überlegungen zur Lust knüpfen im Spätwerk an Höffding 1887, 294-
301 und die wiederholte Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmanns Philo-
sophie des Unbewussten an, gegen die er sich notiert: „Lust und Unlust sind
Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werthurteile zweiten Ranges" (NL 1887/
88, KSA 13, 11[61], 30, 18 = KGW IX 7, W II 3, 170, 9-10, vgl. dazu Wahrig-
Schmidt 1988, 445 f.). Rolph 1884, 176 hält die Unlust für das, was „die erste
Lebensthätigkeit" anregt, während die Lust als „Actionsmotiv" „ganz
unbrauchbar" sei (N. hat sich diese Stelle mit Unterstreichung, Randstrich und
NB markiert, vgl. Moore 1998, 535; siehe auch NL 1888, KSA 13, 14[174], 360 f. =
KGW IX 8, W II 5, 30).
93, 13 f. Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl.]
In GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 34, KSA 6, 132, 22 f. illustriert N. den
„Ursachen-Trieb" am Beispiel des Anarchisten, der einen Schuldigen für sein
Leiden sucht. Dort ist es also nicht Furcht, sondern Empörung, was den
Ursachentrieb nährt — während in GD Die vier grossen Irrthümer 4, KSA 6, 92,
8 u. 19 f. von der äußeren Stimulation dieses (dort ohne Bindestrich geschrie-
benen) Ursachentriebes die Rede ist. Nur an diesen drei Stellen kommt in N.s
Werk (und Nachlass) der Ursachentrieb überhaupt vor. Die Pointe von 93, 13 f.
besteht darin, dass die Erklärung selbst dem Ursachentrieb nachgibt, nämlich
für ihn eine Ursache angeben will.
Beim Ausdruck „Ursachentrieb", der etwa bei Grimm 1854-1971 nicht
belegt ist, handelt es sich nicht um einen Neologismus N.s. Der Ausdruck ist
in der entwicklungspsychologischen und -physiologischen Literatur der Zeit
 
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