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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0373
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354 Götzen-Dämmerung

und Kant seien zu gleichen Teilen schuldig an der Entstehung des „Fabelwe-
sens" „intelligible Freiheit" (KGW IV 4, 178). Schopenhauer hatte Platon und
Kant (nach Kritik der reinen Vernunft A 532-558) bescheinigt, die Unterschei-
dung von intelligibler und empirischer Freiheit zu lehren und das in der
Anmerkung zu § 10 der Preisschrift über die Freiheit des Willens (1839) ausge-
führt: „Wer das Wesentliche eines Gedankens auch in ganz verschiedenen Ein-
kleidungen desselben wiederzuerkennen fähig ist, wird mit mir einsehen, daß
jene Kantische Lehre vom intelligibeln und empirischen Charakter eine zur
abstrakten Deutlichkeit erhobene Einsicht ist, die schon Plato gehabt hat, wel-
cher jedoch, weil er die Idealität der Zeit nicht erkannt hatte, sie nur in zeitli-
cher Form, mithin bloß mythisch und in Verbindung mit der Metempsychose
darlegen konnte. Diese Erkenntniß der Identität beider Lehren wird nun aber
sehr verdeutlicht durch die Erläuterung und Ausführung des Platonischen
Mythos, welche Porphyrius mit so großer Klarheit und Bestimmtheit gegeben
hat, daß die Übereinstimmung mit der abstrakten Kantischen Lehre bei ihm
unverkennbar hervortritt. Aus einer nicht mehr vorhandenen Schrift von ihm
hat uns diese Erörterung, in welcher er den hier in Rede stehenden, von Plato,
in der zweiten Hälfte des zehnten Buches der Republik gegebenen Mythos,
genau und speciell kommentirt, Stobäos in extenso aufbehalten, im zweiten
Buch seiner Eklogen, Kap. 8, §§. 37-40, welcher Abschnitt höchst lesenswerth
ist." (Schopenhauer 1873-1874, 4/2, 178) Vgl. Müller-Lauter 1999b, 39 f., syste-
matisch zur intelligiblen Freiheit bei N. Ottmann 1999, 205 u. Petersen 2008,
129-133.
96, 26 f. Wir haben den Begriff „Zweck" erfunden: in der Realität fehlt der
Zweck...] Vgl. NL 1887, KSA 12, 9[91], 386, 6-10 (KGW IX 6, W II 1, 69, 1-4), wo
N. die „anscheinende ,Zweckmäßigkeit"' als „Folge" des „Willens zur
Macht" erwägt. In 96, 26 f. wird der Zweckbegriff ganz verabschiedet, in
pointiertem Gegensatz zu Otto Liebmanns Buch Gedanken und Thatsachen, das
die Vorlage für 9[91] abgegeben hat: „Ob objectiv, sei es in den Erscheinungen,
sei es im metaphysischen Hintergrund der Erscheinungen, irgend
etwas /91/ menschlichen Absichten, Plänen, Zwecken und zweckerstrebenden
Handlungen Aehnliches vorhanden und wirksam ist, darüber können wir
nichts wissen; das bleibt Sache der Meinung. Unzweifelhaft aber ist es, daß wir
Menschen unserer specifischen Geistesconstitution gemäß uns genötigt sehen,
Vieles in der Welt der Erscheinungen als eminent zweckentsprechend aufzufas-
sen. Ob es außer, neben, über den mit blinder, absichtsloser Nothwendigkeit
weiterarbeitenden causis efficientibus noch besondere Zweckursachen,
causae finales, gibt, darüber herrscht Schulstreit und ist Schulstreit möglich;
aber daß es in der Natura Naturata eine vom Menschen unabhängige, aller
seiner Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit gibt, darüber nicht.
 
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