Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 115 427
petits faits ist eines ganzen Künstlers unwürdig] Vorformuliert ist dieser Vor-
wurf in einer gegen die zeitgenössische französische Philosophie gerichteten
Passage in GM III 24, KSA 5, 399, 29-400, 9: „Ich kenne dies Alles vielleicht
zu sehr aus der Nähe: jene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu
der ein solcher Glaube verpflichtet, jener Stoicismus des Intellekts, der sich
das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehenbleiben-Wol-
len vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum, jener Fatalismus der
,petits faits' (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische
Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor der deutschen sucht,
jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen,
Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen
und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehört) — das drückt, in's
Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Ver-
neinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung)."
Diese Überlegungen implizieren eine Fundamentalkritik am Ideal wissen-
schaftlicher Objektivität — und genau in diese Richtung treibt N. den Gedanken
in EH JGB 2, KSA 6, 351, 2-8. Die Variationen dieser Überlegungen gründen auf
einer Notiz in NL 1884/85, KSA 11, 35[34], 525, 13-23 (korrigiert nach KGW IX 4,
W I 3, 113, 1-16; hier nur in der überarbeiteten Version ohne durchgestrichene
Passagen wiedergegeben): „Zweitens nenne ich das feine schwermüthig-herz-
hafte Buch eines Franzosen, welches freilich [...], wie fast Alles, was jetzt aus
Paris kommt, zum Übermaaß zu verstehen giebt, wo eigentlich heute der Pes-
simismus zu Hause ist (nämlich nicht in Deutschland): Und was hilft da aller
Positivismus und die entschlossene(n) Kniebeugen vor den ,petits faits'! Man
leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost der große(n)
Enttäuschungen, [...] und der Beste und Tapferste, wie jener brave Guyau, zit-
tert [...] bei seinem Positivismus und überredet sich vielleicht ironisch, daß
sein Zittern vielleicht noch zu den Reizen des Lebens gehöre und das Schau-
dern ist der Menschheit schönster Theil [...]. -" Gemeint ist Jean-Marie Guyaus
Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction (1885 — zu Guyau siehe NK
91, 14-18), der von den „kleinen Tatsachen" und ihrem großen Effekt dort zwar
nicht im Plural, aber doch im Singular berichtet: „Ou sait ce qui arriva ä A. de
Müsset dans sa jeunesse (on raconte le meme trait de Merimee). Un jour
qu'apres avoir ete fortement gronde pour une peccadille enfantine, il s'en allait
en larmes, tout contrit, il entendit ses parents qui disaient, la porte fermee:
,Le pauvre gargon, il se croit bien criminel!' La pensee que sa faute n'avait rien
de serieux et que son remords ä lui etait de l'enfantillage, le blessa au vif. Ce
petit fait se grava dans sa memoire pour n'en plus sortir. La meme chose arrive
aujourd'hui ä l'humanite; si elle en vient ä imaginer que son ideal moral est
un ideal d'enfant, variable selon le caprice des coutumes, que la fin et la
petits faits ist eines ganzen Künstlers unwürdig] Vorformuliert ist dieser Vor-
wurf in einer gegen die zeitgenössische französische Philosophie gerichteten
Passage in GM III 24, KSA 5, 399, 29-400, 9: „Ich kenne dies Alles vielleicht
zu sehr aus der Nähe: jene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu
der ein solcher Glaube verpflichtet, jener Stoicismus des Intellekts, der sich
das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehenbleiben-Wol-
len vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum, jener Fatalismus der
,petits faits' (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische
Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor der deutschen sucht,
jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen,
Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen
und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehört) — das drückt, in's
Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Ver-
neinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung)."
Diese Überlegungen implizieren eine Fundamentalkritik am Ideal wissen-
schaftlicher Objektivität — und genau in diese Richtung treibt N. den Gedanken
in EH JGB 2, KSA 6, 351, 2-8. Die Variationen dieser Überlegungen gründen auf
einer Notiz in NL 1884/85, KSA 11, 35[34], 525, 13-23 (korrigiert nach KGW IX 4,
W I 3, 113, 1-16; hier nur in der überarbeiteten Version ohne durchgestrichene
Passagen wiedergegeben): „Zweitens nenne ich das feine schwermüthig-herz-
hafte Buch eines Franzosen, welches freilich [...], wie fast Alles, was jetzt aus
Paris kommt, zum Übermaaß zu verstehen giebt, wo eigentlich heute der Pes-
simismus zu Hause ist (nämlich nicht in Deutschland): Und was hilft da aller
Positivismus und die entschlossene(n) Kniebeugen vor den ,petits faits'! Man
leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost der große(n)
Enttäuschungen, [...] und der Beste und Tapferste, wie jener brave Guyau, zit-
tert [...] bei seinem Positivismus und überredet sich vielleicht ironisch, daß
sein Zittern vielleicht noch zu den Reizen des Lebens gehöre und das Schau-
dern ist der Menschheit schönster Theil [...]. -" Gemeint ist Jean-Marie Guyaus
Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction (1885 — zu Guyau siehe NK
91, 14-18), der von den „kleinen Tatsachen" und ihrem großen Effekt dort zwar
nicht im Plural, aber doch im Singular berichtet: „Ou sait ce qui arriva ä A. de
Müsset dans sa jeunesse (on raconte le meme trait de Merimee). Un jour
qu'apres avoir ete fortement gronde pour une peccadille enfantine, il s'en allait
en larmes, tout contrit, il entendit ses parents qui disaient, la porte fermee:
,Le pauvre gargon, il se croit bien criminel!' La pensee que sa faute n'avait rien
de serieux et que son remords ä lui etait de l'enfantillage, le blessa au vif. Ce
petit fait se grava dans sa memoire pour n'en plus sortir. La meme chose arrive
aujourd'hui ä l'humanite; si elle en vient ä imaginer que son ideal moral est
un ideal d'enfant, variable selon le caprice des coutumes, que la fin et la