428 Götzen-Dämmerung
matiere d'une foule de devoirs sont pueriles, superstitieuses, elle sera portee
ä sourire d'elle-meme, ä ne plus apporter dans l'action ce serieux sans lequel
disparait le devoir absolu." (Guyau 1885, 110; im Plural kommen „petits faits"
etwa bei Guyau 1887, 259, 308 u. 345 vor. „Man weiß, was A. de Müsset in
seiner Jugend zugestoßen ist (dasselbe erzählt man von Merimee). Eines Tages
nachdem seine Eltern mit ihm wegen eines kleinen Kinderstreichs stark
geschimpft hatten, als er weinend und völlig zerknirscht wegging, hörte er
seine Eltern hinter der geschlossenen Tür sagen: ,Der arme Junge glaubt, er sei
ein Verbrecher!' Dieser Gedanke, dass sein Fehler nichts Ernstes war, dass
seine Schuldgefühle nur kindlich waren, verletzte ihn zutiefst. Diese kleine
Tatsache verstärkte sich in seiner Erinnerung und ließ ihn nicht mehr los.
Dieselbe Sache widerfährt heute der Menschheit. Falls sie sich eines Tages
vorstellen kann, dass ihr moralisches Ideal das Ideal eines Kindes ist, verän-
derbar je nach Laune der Sitten, dass die Ziele und die Inhalte einer Menge
Pflichten kindisch sind, abergläubisch, wird die Menschheit über sich selbst
lachen müssen und nicht mehr diesen Ernst, ohne den die absolute Pflicht
verschwindet, in ihre Handlungen legen.").
In NL 1885/86, KSA 12, 2[66], 90, 1 f. (KGW IX 5, W I 8, 150, 22 f.) erwägt N.
auch die Anwendung der Kritik an der petits faits-Fixierung auf die Musik;
schließlich wird in NL 1888/89, KSA 13, 25[4], 639, 4 vor zwei Schriftstellerna-
men (Fromentin und Vogüe) notiert: „petits faits vrais", „kleine, wahre Tatsa-
chen". Diese Wendung geht auf Stendhal zurück (z. B. Stendhal 1855, 2, 297)
und findet sich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen auch wieder bei
Bourget 1920, 2, 64 (eine ähnliche Stendhal-Bourget-Adaption nimmt N. in JGB
39, KSA 5, 57, 20-24 vor). Bourget ist wohl auch die Quelle für N.s Vorwurf an
die Adresse der Brüder Goncourt, es mit den petits faits zu genau zu nehmen,
vgl. Bourget 1920, 2, 149 zu den Goncourt: „Les objets leur apparaissent comme
des signes d'une infinite de petits faits." („Die Dinge erscheinen ihnen wie
Zeichen einer Unendlichkeit von kleinen Tatsachen." Dazu ebd., 155 f.) Zur
Kritik an den Goncourt siehe auch NK 111, 14 f.
8-11
Diese Abschnitte (116, 3-119, 8) stellten ursprünglich den Beginn eines Kapitels
„Zur Physiologie der Kunst" dar, das N. in WA 7, KSA 6, 26, 31 f. als Kapitel
seines „Hauptwerks" ankündigt (vgl. auch NK 119, 1-8). Der Plan für den „Wil-
len zur Macht" vom Mai 1888 führt im dritten Buch das dritte Kapitel unter
diesem Titel auf. Gleichzeitig entstand eine Reinschrift im Turiner Heft W II 9.
Mit der Aufgabe der Werkpläne zum „Willen zur Macht" übernahm N. die vier
matiere d'une foule de devoirs sont pueriles, superstitieuses, elle sera portee
ä sourire d'elle-meme, ä ne plus apporter dans l'action ce serieux sans lequel
disparait le devoir absolu." (Guyau 1885, 110; im Plural kommen „petits faits"
etwa bei Guyau 1887, 259, 308 u. 345 vor. „Man weiß, was A. de Müsset in
seiner Jugend zugestoßen ist (dasselbe erzählt man von Merimee). Eines Tages
nachdem seine Eltern mit ihm wegen eines kleinen Kinderstreichs stark
geschimpft hatten, als er weinend und völlig zerknirscht wegging, hörte er
seine Eltern hinter der geschlossenen Tür sagen: ,Der arme Junge glaubt, er sei
ein Verbrecher!' Dieser Gedanke, dass sein Fehler nichts Ernstes war, dass
seine Schuldgefühle nur kindlich waren, verletzte ihn zutiefst. Diese kleine
Tatsache verstärkte sich in seiner Erinnerung und ließ ihn nicht mehr los.
Dieselbe Sache widerfährt heute der Menschheit. Falls sie sich eines Tages
vorstellen kann, dass ihr moralisches Ideal das Ideal eines Kindes ist, verän-
derbar je nach Laune der Sitten, dass die Ziele und die Inhalte einer Menge
Pflichten kindisch sind, abergläubisch, wird die Menschheit über sich selbst
lachen müssen und nicht mehr diesen Ernst, ohne den die absolute Pflicht
verschwindet, in ihre Handlungen legen.").
In NL 1885/86, KSA 12, 2[66], 90, 1 f. (KGW IX 5, W I 8, 150, 22 f.) erwägt N.
auch die Anwendung der Kritik an der petits faits-Fixierung auf die Musik;
schließlich wird in NL 1888/89, KSA 13, 25[4], 639, 4 vor zwei Schriftstellerna-
men (Fromentin und Vogüe) notiert: „petits faits vrais", „kleine, wahre Tatsa-
chen". Diese Wendung geht auf Stendhal zurück (z. B. Stendhal 1855, 2, 297)
und findet sich unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen auch wieder bei
Bourget 1920, 2, 64 (eine ähnliche Stendhal-Bourget-Adaption nimmt N. in JGB
39, KSA 5, 57, 20-24 vor). Bourget ist wohl auch die Quelle für N.s Vorwurf an
die Adresse der Brüder Goncourt, es mit den petits faits zu genau zu nehmen,
vgl. Bourget 1920, 2, 149 zu den Goncourt: „Les objets leur apparaissent comme
des signes d'une infinite de petits faits." („Die Dinge erscheinen ihnen wie
Zeichen einer Unendlichkeit von kleinen Tatsachen." Dazu ebd., 155 f.) Zur
Kritik an den Goncourt siehe auch NK 111, 14 f.
8-11
Diese Abschnitte (116, 3-119, 8) stellten ursprünglich den Beginn eines Kapitels
„Zur Physiologie der Kunst" dar, das N. in WA 7, KSA 6, 26, 31 f. als Kapitel
seines „Hauptwerks" ankündigt (vgl. auch NK 119, 1-8). Der Plan für den „Wil-
len zur Macht" vom Mai 1888 führt im dritten Buch das dritte Kapitel unter
diesem Titel auf. Gleichzeitig entstand eine Reinschrift im Turiner Heft W II 9.
Mit der Aufgabe der Werkpläne zum „Willen zur Macht" übernahm N. die vier