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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0477
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458 Götzen-Dämmerung

politische Heuchelei, /66/ die genauso pervers und noch schädlicher ist in
unserem Jahrhundert als die religiöse Heuchelei, weil diese nämlich heutzu-
tage die Macht fast im selben Augenblick verliert, in dem sie sie erhalten hat.
Man wird vielleicht sagen, dass es eine der Wohltaten der repräsentativen
Regierung sei, seine Ehrgeizigen zu zwingen, die Maske der Moral und Mensch-
lichkeit anzunehmen. Weshalb also so erbittert gegen die Macht des Klerus
kämpfen, der, solange er existierte, der Zivilisation mit ganz ähnlichen Mitteln
geholfen hat?").
Dass die Heuchelei im siede classique der französischen Literatur das
große Thema von La Rochefoucauld über La Bruyere und La Fontaine bis
Moliere gewesen ist (und später noch bei Stendhal), hat sich N. 1887/88 viel-
leicht bei der Lektüre von Faguets Dix-septieme siede in Erinnerung rufen las-
sen, vgl. z. B. Faguet o. J., 224, 227, 251, 274, 279, 486 u. 491. Eine Vorlage
für die Umwertung und Positivierung der Heuchelei, die GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 18 vornimmt, hat N. bei Goncourt 1887, 2, 119 gefunden (7. Juni
1863; Anstreichung N.s am Rand): „Le soir, en nous promenant dans le parc,
l'ancien procureur generale, l'initie ä tous les secrets de famille, nous dit qu'au
fond la societe vit absolument de l'hypocrisie, et que cette hypocrisie, il faut
la proteger, l'encourager meme... parce que, pour peu qu'on penetre dans la
vie des gens, on n'y trouve pas seulement l'adultere... mais l'inceste et tout le
reste." („Abends während eines Spaziergangs durch den Park sagt uns der alte
Generalstaatsanwalt, der in alle Familiengeheimnisse eingeweiht ist, dass die
Gesellschaft im Grunde absolut von der Heuchelei lebe und dass man diese
beschützen, ja sogar ermutigen müsse..., denn dringt man nur wenig in das
Leben der Menschen ein, findet man dort nicht bloß den Ehebruch..., sondern
auch den Inzest und den ganzen Rest.").
122, 24-29 Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen:
diese selbst leben verträglich beisammen, — sie hüten sich, wie alle Welt heute,
sich zu compromittiren. Womit compromittirt man sich heute? Wenn man Conse-
quenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig
ist. Wenn man echt ist...] Ein Bekenntnis zur Selbstkompromittierung gibt N. in
EH Warum ich so weise bin 7, KSA 6, 274, 24-28: „ich greife nur Sachen an,
wo ich keine Bundesgenossen finden würde, wo ich allein stehe, — wo ich
mich allein compromittire... Ich habe nie einen Schritt öffentlich gethan, der
nicht compromittirte: das ist mein Kriterium des rechten Handelns." In WA
6, KSA 6, 24, 21 f. wird gegen Wagner sarkastisch vermerkt: „Vor Allem kein
Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke!" (vgl. dazu die selbst-
biographische Reflexion NL 1888, KSA 13, 15[11], 411, 12-14: „Der Geschmack
an der Musik Wagners compromittirt. Ich sage das als einer, der sich aus-
nimmt, — ich habe mich compromittirt.") Meyer 1885-1892, 9, 1002 vermerkt:
 
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