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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0073
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50 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

selbst ursächlich für diesen Niedergang verantwortlich seien. Dann könnte
man die Frage der decadence aber nicht mehr rein physiologisch verhandeln —
,geistige' Ursachen wären mindestens ebenso in Rechnung zu stellen wie mate-
rielle. Aber mit dem „beinahe" in 172, 19 ist wieder viel offen.
172, 21-26 Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für
Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Nieder-
gang. Meine Behauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser
Wille fehlt, — dass Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den
heiligsten Namen die Herrschaft führen.] Die hier gegebenen Definitionsversu-
che des Lebens und des Niedergangs werden ausdrücklich als „Behauptung"
des wieder wortführenden „Ichs" markiert, so dass der Leser erwarten kann,
im weiteren Verlauf des Textes diese Behauptung plausibilisiert zu bekommen.
Die eigentliche Definitionsarbeit ist fortgesetzte Gleichsetzung durch Reihung,
so dass alle spezifischen Differenzen zwischen Wachstumsinstinkt, Kräftehäu-
fung, Macht und Wille zur Macht eingeebnet werden. Ein ähnliches Verfahren
im Blick auf Macht und den Willen dazu hat N. in AC 2 gewählt, vgl. NK 170,
2-6.
172, 25 f. Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den heiligsten
Namen] Das „Ich" tritt mit Enthüllungsanspruch auf, hinter dem Höchstge-
schätzten, dem Heiligsten das Verderben, nämlich eben die „nihilistischen
Werthe" zu entlarven. Dabei fungiert das Nihilismusverdikt als Totschlagargu-
ment: Ob „Leben" tatsächlich im „Instinkt für Macht" aufgehe und niederge-
hendes Leben einen Machtwillensdefekt indiziere, wird nur dekretiert, nicht
diskutiert.
Das Nihilismusproblem erscheint schon im „Lenzer Heide"-Notat vom
10. Juni 1887 zweischneidig: Auf der einen Seite sei die christliche Moral „das
große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilis-
mus" (NL 1887, KSA 12, 5[71]1, 211, 22 f. = KGW IX 3, N VII 3, 14, 28-30) gewe-
sen, die erst durch die von derselben Moral großgezogene „Wahrhaftig-
keit" (211, 26 = KGW IX 3, N VII 3, 14, 36) überflüssig werde. Letztere führe
durch die Elimination der Sicherheiten aber geradewegs zum Nihilismus. Auf
der andern Seite ist später in der Aufzeichnung der Nihilismus „Symptom
davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben" (5[71]12,
216, 2f. = KGW IX 3, N VII 3, 21, 16-18). Der Nihilismus ist in beiden Fällen
eine Reaktion auf das Christentum: Im ersten Fall eine Durchgangsphase zu
neuen Horizonten für jene Wahrhaftigen, welche die christlichen Werte nicht
mehr akzeptieren können, im zweiten Fall aber der entfesselte, anarchistische
Machtwille der Schwachen, die „keinen Grund mehr haben, ,sich zu ergeben'
[...]. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-thun, nach-
 
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