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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0074
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Stellenkommentar AC 7, KSA 6, S. 172 51

dem alles Dasein seinen ,Sinn' verloren hat" (216, 4-10 = KGW IX 3, N VII 3,
21, 22-34). Die Starken laufen in dieser zweiten Version der Nihilismusdiagnose
keine Gefahr, nihilistisch infiltriert zu werden; sie sind, im ganzen Notat, über-
haupt nicht der alten Moral unterworfen. Das Christentum will hier weder
„über Raubthiere Herr werden", noch muss es dazu „krank" machen (AC
22, KSA 6, 189, 18 f.). Die weitgehende Identifikation von Christentum und Nihi-
lismus fehlt noch in der Aufzeichnung vom Sommer 1887; die christliche Moral
kann den Starken kaum wirklich gefährlich werden, weil sie eigentlich nur die
Schwachen bindet.

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AC 7 — ursprünglich in Mp XVI 4 mit dem Titel „Das Mitleiden" versehen
(KSA 14, 437) — verknüpft systematische Hauptargumente gegen das „Mitlei-
den" mit seiner Geschichte und mit den in der Gegenwart sichtbar gewordenen
Resultaten dieser Geschichte. Durch diese Verquickung des systematischen mit
dem historischen und gegenwartskritischen Aspekt erhält der Abschnitt seine
Eindringlichkeit. In ihm werden prinzipielle Unannehmbarkeiten der christli-
chen Ethik exponiert, an denen sich alles Folgende orientiert. Die Beweisfüh-
rung gegen die Mitleidspraktik setzt ein mit der Behauptung, Mitleiden stünde
„im Gegensatz zu den tonischen Affekten" (172, 29 f.) und untergrabe die
„Kraft" (172, 31) des Mitleidenden. Dies wird von einem pseudo-medizinischen
Befund flankiert, dass nämlich Leiden durch Mitleiden „ansteckend" (173, 2)
sei. Als zweite Prämisse wird der Selektionsgedanke bemüht, nach welchem
das Mitleiden gerade jene zum Untergang verurteilten Wesen am Leben erhalte,
denen das Leben eigentlich nicht mehr gebühre. Entgegen der als feststehend
postulierten Lebensschädlichkeit des Mitleides habe man — so will es ein wei-
terer historischer Exkurs — das Mitleiden zur „Tugend" (173, 16), ja gar zum
„Ursprung aller Tugenden" (173, 18 f.) erhoben. Dies aber sei nur möglich gewe-
sen aus dem Blickwinkel einer nihilistischen Philosophie, die sich „die Ver-
neinung des Lebens auf ihr Schil(d schrieb" (173, 21 f.). Da ist Schopen-
hauer gemeint, vgl. NK 173, 20-22. Positiv inspiriert ist N.s Mitleidskritik
demgegenüber (implizit) von Kant sowie von Spinoza, der gleichfalls die
Schädlichkeit der commiseratio betont und darin in stoischer Tradition steht
(z. B. Spinoza: Ethik IV, prop. 50).
172, 28 f. Man nennt das Christenthum die Religion des Mitleidens.] In AC 7
wird nur hier das Christentum beim Namen genannt. Der Ausdruck „Religion
des Mitleidens" taucht bei N. erstmals in NL 1880, KSA 9, 7[26], 923 auf und
wird ausführlich diskutiert in FW 338, KSA 3, 565-568 und in FW 377, KSA 3,
 
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