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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0689
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666 Dionysos-Dithyramben

der Menschheitsgeschichte. Vielleicht reicht es diesem Dichter-Philosophen-
Adler bei aller bluttriefenden Rhetorik ja, wenn er die Lämmer aus ihrem mora-
lischen Trott herauszureißen vermag. In einer Vorfassung des Gedichts — unter
dem Titel „Schafe" — hatte den Adler noch explizit der Hass auf die Lämmer
beseelt (NL 1884, KSA 11, 28[14], 304).
379, 24 Gott als Schaf] Die Vorstellung von Christus als Apvoq tov Oeov
oder Agnus Dei, als Lamm Gottes ist im Christentum tief verwurzelt, denn
Christus (als Sohn Gottes oder als zweite Person der Trinität) hat sich selbst
geopfert (vgl. Johannes 1, 29 u. 1, 36; 1. Korinther 5, 7; MA II VM 33, KSA 2, 396,
24). Die Reinheit des unschuldigen Lammes wird in N.s ironischer Anspielung
dadurch karikiert, dass jetzt im Unterschied zu 379, 11-17 statt des niedlichen
Jungtieres das für seine Beschränktheit verschrieene, ausgewachsene Tier,
eben das Schaf an die Stelle des Lammes tritt.
380, 10 f. so sank ich selber einstmals, / aus meinem Wahrheits-Wahnsinne] Die
3. Abhandlung der Genealogie der Moral stellte den „Willen zur Wahrheit" als
letzte Konsequenz asketischer Ideale heraus, um auch im wissenschaftlichen
Wahrheitsdiskurs einen letzten Rest (christlicher) Lebensverneinung dingfest
zu machen. Daher wird der „Wille zur Wahrheit" selbst der Kritik preisgegeben:
„bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist
versuchsweise einmal in Frage zu stellen..." (GM III 24, KSA 5, 401, 23-25)
Das lyrische Ich beschreibt in 380, 10 f., wie es vom asketischen Wahrheitsideal
abgefallen ist.

Unter Töchtern der Wüste.
Dieser Dithyrambus, der wie in der Vorlage von Za IV (KSA 4, 379-385) in eine
Prosa-Partie und in ein aus der „Erinnerung" (382, lf.) hervorgeholtes „altes
Nachtisch-Lied" aufgeteilt ist, geht von einem eskapistischen Impuls aus, der
als solcher reflektiert wird: Der „Europäer", in dessen Rolle das Ich des Nach-
tisch-Lieds explizit spricht („Und da stehe ich schon, / als Europäer", 387, 4 f.),
versucht dem alten Europa mit seiner „Schwermuth" (381, 9; 381, 14), dem
„wolkigen feuchten schwermüthigen Alt-Europa" (382, 5 f.), zu entkommen,
dorthin, wo es „keine Gedanken" gibt (382, 8 f.), und bei den „Töchtern der
Wüste" „gute helle morgenländische Luft" (382, 3-5) zu atmen. Damit reflek-
tiert N. den Orientalismus und Exotismus seiner Zeit, wie er etwa in Gustave
Flauberts Salammbö und in Arthur Rimbauds Gedicht Le bateau ivre (mit ganz
ähnlichen Flucht-Imaginationen: „Je regrette l'Europe aux anciens parapets")
und auch in der zeitgenössischen Malerei zum Ausdruck kommt. Er knüpft
aber auch an Goethes West-östlichen Divan an, besonders an das Eröffnungsge-
 
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