II Stellenl<ommentar
Titel
255, 1 Ecce homo] „Ecce homo!" soll der römische Statthalter Pilatus nach
dem Passionsbericht des Johannes ausgerufen haben, als er den gegeißelten,
mit Dornenkrone und Purpurkleid angetanen Jesus von Nazareth dem aufge-
brachten Volk vorführen ließ (Johannes 19, 5) — also vor seiner Kreuzigung.
Die „Ecce homo"-Situation der johanneischen Leidensgeschichte ist in der von
N. studierten neutestamentlichen Fachliteratur zwiespältig beurteilt worden.
In Daniel Schenkels (1813-1885) Charakterbild Jesu, das N. schon in seinen
Bonner Studententagen gelesen hat, heißt es zu Johannes 19, 5, Pilatus habe
versucht, „das Mitgefühl der jüdischen Gegner Jesu in Anspruch zu nehmen,
[...] und ließ Jesus aufs grausamste misshandeln, um das Mitleid seiner Feinde
zu wecken; ein Verfahren, welches allerdings von keiner besonders tiefen
Kenntniß des menschlichen Herzens zeugte" (Schenkel 1864, 216). In Ernest
Renans Vie de Jesus wird die Geißelung, Dornenkrönung, Verspottung und
Vorführung Jesu zum letzten Akt im Bestreben des Statthalters, Jesus vor dem
Blutdurst des Mobs zu retten: „il voulut tourner la chose en comedie" (Renan
1867, 420 — „er [sc. Pilatus] wollte daraus eine Komödie machen"). Nur isoliert
betrachtet und im Horizont der christologischen Deutungsgeschichte klingt die
Pilatus zugeschriebene Äußerung bewundernd, ja ehrfurchtsvoll, zumal in der
Übersetzung Luthers: „Sehet, welch ein Mensch!" Der Zusammenhang des Pas-
sionsberichts macht eine solche Bewunderung allerdings wenig wahrschein-
lich; der Ausspruch des Pilatus führt vielmehr den Göttlichkeitsanspruch Jesu
ad absurdum. So bekommt der Ausspruch einen anderen Klang: Sehet, nur ein
Mensch, kein König der Juden, kein Messias, kein Gottessohn! (Zu Pilatus vgl.
NK KSA 6, 225, 2-10; Sommer 2004 u. Detering 2010, 128, der demgegenüber
betont, dass das Pilatus-Wort im Titel von EH nicht mehr auf die Skepsis des
Pilatus verweise: „Sondern er [sc. N.] zitiert Pilatus als den, der die Jesus ver-
höhnende und verkennende Menge ahnungs- und respektvoll auf den Verkann-
ten hinweist — ihn, dessen Stunde nun gekommen ist.") Dennoch präsentiert
N. sich in EH als Erlöser und macht der Christusgestalt entschieden Konkur-
renz. In seinem Brief an Meta von Salis vom 14. 11. 1888 erläuterte N. den Titel
folgendermaßen: „Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce;
der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten,
scheint mir fast zu gut gelungen." (KSB 8, Nr. 1144, S. 471, Z. 12-15).
N. konnte eine Inspiration für den Titel seiner Selbstpräsentation durchaus
auch dem zeitgenössischen Schrifttum entnehmen. So war damals das nur die
Titel
255, 1 Ecce homo] „Ecce homo!" soll der römische Statthalter Pilatus nach
dem Passionsbericht des Johannes ausgerufen haben, als er den gegeißelten,
mit Dornenkrone und Purpurkleid angetanen Jesus von Nazareth dem aufge-
brachten Volk vorführen ließ (Johannes 19, 5) — also vor seiner Kreuzigung.
Die „Ecce homo"-Situation der johanneischen Leidensgeschichte ist in der von
N. studierten neutestamentlichen Fachliteratur zwiespältig beurteilt worden.
In Daniel Schenkels (1813-1885) Charakterbild Jesu, das N. schon in seinen
Bonner Studententagen gelesen hat, heißt es zu Johannes 19, 5, Pilatus habe
versucht, „das Mitgefühl der jüdischen Gegner Jesu in Anspruch zu nehmen,
[...] und ließ Jesus aufs grausamste misshandeln, um das Mitleid seiner Feinde
zu wecken; ein Verfahren, welches allerdings von keiner besonders tiefen
Kenntniß des menschlichen Herzens zeugte" (Schenkel 1864, 216). In Ernest
Renans Vie de Jesus wird die Geißelung, Dornenkrönung, Verspottung und
Vorführung Jesu zum letzten Akt im Bestreben des Statthalters, Jesus vor dem
Blutdurst des Mobs zu retten: „il voulut tourner la chose en comedie" (Renan
1867, 420 — „er [sc. Pilatus] wollte daraus eine Komödie machen"). Nur isoliert
betrachtet und im Horizont der christologischen Deutungsgeschichte klingt die
Pilatus zugeschriebene Äußerung bewundernd, ja ehrfurchtsvoll, zumal in der
Übersetzung Luthers: „Sehet, welch ein Mensch!" Der Zusammenhang des Pas-
sionsberichts macht eine solche Bewunderung allerdings wenig wahrschein-
lich; der Ausspruch des Pilatus führt vielmehr den Göttlichkeitsanspruch Jesu
ad absurdum. So bekommt der Ausspruch einen anderen Klang: Sehet, nur ein
Mensch, kein König der Juden, kein Messias, kein Gottessohn! (Zu Pilatus vgl.
NK KSA 6, 225, 2-10; Sommer 2004 u. Detering 2010, 128, der demgegenüber
betont, dass das Pilatus-Wort im Titel von EH nicht mehr auf die Skepsis des
Pilatus verweise: „Sondern er [sc. N.] zitiert Pilatus als den, der die Jesus ver-
höhnende und verkennende Menge ahnungs- und respektvoll auf den Verkann-
ten hinweist — ihn, dessen Stunde nun gekommen ist.") Dennoch präsentiert
N. sich in EH als Erlöser und macht der Christusgestalt entschieden Konkur-
renz. In seinem Brief an Meta von Salis vom 14. 11. 1888 erläuterte N. den Titel
folgendermaßen: „Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce;
der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten,
scheint mir fast zu gut gelungen." (KSB 8, Nr. 1144, S. 471, Z. 12-15).
N. konnte eine Inspiration für den Titel seiner Selbstpräsentation durchaus
auch dem zeitgenössischen Schrifttum entnehmen. So war damals das nur die