52 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
629 f. (vgl. auch JGB 202, KSA 5, 125 f.; JGB 206, KSA 5, 134; GM III 25, KSA 5,
403).
N. besaß eine Schrift von Hans von Wolzogen — Berufswagnerianer und
Herausgeber der Bayreuther Blätter —, die 1883 unter dem Titel Die Religion
des Mitleidens und die Ungleichheit der menschlichen Racen erschien. Auch
Richard Wagner selbst meinte in seinem Offenen Schreiben an Herrn Ernst von
Weber (1879), es solle „uns fortan einzig noch daran gelegen sein [...], der
Religion des Mitleidens, den Bekennern des Nützlichkeitsdogmas zum
Trotz, einen kräftigen Boden zu neuer Pflege bei uns gewinnen zu lassen"
(Wagner 1907, 10, 200). Entsprechend negativ vermerkte N. in WA 6 und 7
Wagners Revitalisierung der Mitleidsethik, vgl. NK KSA 6, 29, 14 f. Ein Lektüre-
eindruck aus der französischen decadence-Literatur frischte N.s einschlägige
Erinnerungen an Schopenhauer auf. Er schrieb am 10. 04. 1886 an Overbeck:
„In der französischen Litteratur ist le grand succes dieses Jahres un crime
d'amour von Paul Bourget: erstes Zusammentreffen der beiden geistigsten
Strömungen des Pessimismus, des Schopenhauerischen (mit der ,Religion des
Mitleidens') und des Stendhal'schen (mit messerscharfer und grausamer Psy-
chologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der endlich einmal wieder
,Kammermusik-Litteratur' ist und nichts für die Menge. Deutscherseits sagt
man von ihm, wie ich höre, ein ,Fäulnißprodukt'." (KSB 7, Nr. 684, S. 171, Z. 23-
31) Die letzten Worte von Bourgets Crime d'amour lauten: „Et Armand eprouva
qu'une chose venait de naitre en lui, avec laquelle il pourrait toujours trouver
une raison de vivre et d'agir: le respect, la piete, la religion de la souffrance."
(Bourget o. J., 69. „Und Armand fühlte, dass etwas in ihm geboren worden war,
dank dem er immer einen Grund zum Leben und Handeln finden würde: der
Respekt, das Mitleid, die Religion des Leidens.")
Die Kunde vom Christentum als Mitleidsreligion schlechthin drang (vom
Pietismus und) von Schopenhauer her nicht nur zu den Russen (namentlich
zu Tolstoi), sondern auch zu kühleren Analytikern des Christentums. Overbeck
notierte in der „Zwillingsschrift" zu UB I DS, seiner Christlichkeit unserer heuti-
gen Theologie von 1873: „,Lust‘ am Menschlichen hat die christliche Religion
immer nur in der Form des Mitleids gehabt, und in diesem Sinne namentlich
auch nur an der Menschheit ihres Christus, sofern sie ihr zum Zwecke der
Erlösung als nothwendig galt, sie sonst aber diese Menschheit in jeder Weise
zu vergessen gesucht hat." (Overbeck 1873, 44) Schon Ludwig Feuerbach hatte
die Leidensfixierung des Christentums religionskritisch gewendet: „Leiden ist
das höchste Gebot des Christentums — die Geschichte des Christentums selbst
die Leidensgeschichte der Menschheit. [...] /130/ [...] Die christliche Religion ist
die Religion des Leidens." (Feuerbach 1904, 129 f.) Obwohl N. Feuerbach nur
selten erwähnt und kein Werk von ihm in seiner Bibliothek überliefert ist, hat
629 f. (vgl. auch JGB 202, KSA 5, 125 f.; JGB 206, KSA 5, 134; GM III 25, KSA 5,
403).
N. besaß eine Schrift von Hans von Wolzogen — Berufswagnerianer und
Herausgeber der Bayreuther Blätter —, die 1883 unter dem Titel Die Religion
des Mitleidens und die Ungleichheit der menschlichen Racen erschien. Auch
Richard Wagner selbst meinte in seinem Offenen Schreiben an Herrn Ernst von
Weber (1879), es solle „uns fortan einzig noch daran gelegen sein [...], der
Religion des Mitleidens, den Bekennern des Nützlichkeitsdogmas zum
Trotz, einen kräftigen Boden zu neuer Pflege bei uns gewinnen zu lassen"
(Wagner 1907, 10, 200). Entsprechend negativ vermerkte N. in WA 6 und 7
Wagners Revitalisierung der Mitleidsethik, vgl. NK KSA 6, 29, 14 f. Ein Lektüre-
eindruck aus der französischen decadence-Literatur frischte N.s einschlägige
Erinnerungen an Schopenhauer auf. Er schrieb am 10. 04. 1886 an Overbeck:
„In der französischen Litteratur ist le grand succes dieses Jahres un crime
d'amour von Paul Bourget: erstes Zusammentreffen der beiden geistigsten
Strömungen des Pessimismus, des Schopenhauerischen (mit der ,Religion des
Mitleidens') und des Stendhal'schen (mit messerscharfer und grausamer Psy-
chologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der endlich einmal wieder
,Kammermusik-Litteratur' ist und nichts für die Menge. Deutscherseits sagt
man von ihm, wie ich höre, ein ,Fäulnißprodukt'." (KSB 7, Nr. 684, S. 171, Z. 23-
31) Die letzten Worte von Bourgets Crime d'amour lauten: „Et Armand eprouva
qu'une chose venait de naitre en lui, avec laquelle il pourrait toujours trouver
une raison de vivre et d'agir: le respect, la piete, la religion de la souffrance."
(Bourget o. J., 69. „Und Armand fühlte, dass etwas in ihm geboren worden war,
dank dem er immer einen Grund zum Leben und Handeln finden würde: der
Respekt, das Mitleid, die Religion des Leidens.")
Die Kunde vom Christentum als Mitleidsreligion schlechthin drang (vom
Pietismus und) von Schopenhauer her nicht nur zu den Russen (namentlich
zu Tolstoi), sondern auch zu kühleren Analytikern des Christentums. Overbeck
notierte in der „Zwillingsschrift" zu UB I DS, seiner Christlichkeit unserer heuti-
gen Theologie von 1873: „,Lust‘ am Menschlichen hat die christliche Religion
immer nur in der Form des Mitleids gehabt, und in diesem Sinne namentlich
auch nur an der Menschheit ihres Christus, sofern sie ihr zum Zwecke der
Erlösung als nothwendig galt, sie sonst aber diese Menschheit in jeder Weise
zu vergessen gesucht hat." (Overbeck 1873, 44) Schon Ludwig Feuerbach hatte
die Leidensfixierung des Christentums religionskritisch gewendet: „Leiden ist
das höchste Gebot des Christentums — die Geschichte des Christentums selbst
die Leidensgeschichte der Menschheit. [...] /130/ [...] Die christliche Religion ist
die Religion des Leidens." (Feuerbach 1904, 129 f.) Obwohl N. Feuerbach nur
selten erwähnt und kein Werk von ihm in seiner Bibliothek überliefert ist, hat