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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0079
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56 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

diese Folgerung aber nicht, denn es ist schwer einzusehen, weshalb das Mitlei-
den die Ursache der Hinrichtung gewesen sein soll. Es leuchtet, anders gewen-
det, nicht ein, weshalb die Praxis des Mitleidens, wie sie Jesus gemäß der
„Psychologie des Erlösers" (AC 28, KSA 6, 198, 32) gelebt hat, mit größe-
rem Todesrisiko verbunden ist als eine mitleidlose, aber gefahrenlüsterne
hyperboreische Praxis. Eine Ableitung des Leidens aus dem Mitleiden bleibt
im „Fall" von Jesu Sterben zunächst rein rhetorisch. Zur Verwendung des Aus-
drucks „Nazarener" vgl. NK 191, 22.
173, 10-15 Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Grossen das Gesetz der Entwicklung,
welches das Gesetz der Selection ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist,
es wehrt sich zu Gunsten der Enterbten und Verurtheilten des Lebens, es giebt
durch die Fülle des Missrathnen aller Art, das es im Leben festhält, dem
Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt.] Vgl. EH Warum ich ein
Schicksal bin 8, KSA 6, 374, 21-28. Auch in NL 1888, KSA 13, 14[5], 219 f. (KGW
IX 8, W II 5, 186, 48-62; inspiriert von Fere, vgl. Wahrig-Schmidt 1988, 451)
sowie in NL 1888, KSA 13, 15[110], 470 f. wird dem Christentum vorgeworfen,
es schütze die von Natur Benachteiligten und vertrete damit ein „Gegenprincip
gegen die Selektion" (KSA 13, 470, 11). Wird dies als Vorwurf an die
Adresse des Christentums verstanden, dann bekommt das natürliche Gesche-
hen — nämlich zu selektieren — eine moralische Dimension: Es wird der
(gemeinhin als naturalistischer Fehlschluss bezeichnete) Anschein erzeugt,
Natur impliziere ein Sollen und das „Gesetz der Selection" habe Gebotscharak-
ter. In NL 1887, KSA 12, 9[163], 431 (KGW IX 6, W II 1, 20, 2-4 u. 18-21) hat N.
die Rede von „Vervollkommnung" und „Selektion" entsprechend noch zu den
„großen Fälschungen unter der Herrschaft der moralischen Werthe"
gerechnet, sie damit als zeittypisches Ideologem entlarvt. Dass diese Entlar-
vung in 173, 10-15 bzw. in EH Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 374, 21-
28 nicht erfolgt, sondern aus dem natürlich Gegebenen eine Moral deduziert
wird, ist invektivenstrategisch bedingt: Jedes Mittel zur Delegitimierung christ-
licher Anschauungen erscheint legitim.
N.s naturwissenschaftliche Gewährsleute würden die in 173, 10-15 ge-
machte Voraussetzung, dass nämlich der Selektionsprozess überhaupt durch-
kreuzt werden kann, vermutlich verworfen haben, vgl. Schneider 1882, 97: „In
unerbittlicher Weise wird durch die natürliche Selection früher oder später
alles das vernichtet, was schlecht ist, und jeder bösen That folgt mit Nothwen-
digkeit einst die Strafe, der Niemand zu entrinnen vermag. / Die Selection
ist sonach das grosse Weltgericht, das über Jeden mit eiserner Strenge und
Gerechtigkeit waltet." Daraus folgt für Schneider 1882, 99 eine naturnotwen-
dige „Verbesserung des Menschengeschlechtes". N.s eigene Äußerungen zum
„Gesetz der Entwicklung" als „Gesetz der Selection" in AC 7 scheint gleichfalls
 
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