Stellenkommentar AC 7, KSA 6, S. 173 57
wie bei Schneider den Fortschritt der Gattung zu implizieren. Diese Implikation
steht in starker Spannung zur Abwehr der Progressionsideologie in AC 4. Dort
war ja der „höhere Typus" das Ergebnis von welthistorischen „Glücksfällen"
oder aber, in AC 3, der „Züchtung", die als hyperboreischer Willensakt nicht
auf die Gesamtheit, sondern auf einzelne, entwicklungsfähige Individuen
abzielt. Im Übrigen täuscht das Reden in 173, 12 f. von „Enterbten und Verurt-
heilten des Lebens" leicht darüber hinweg, dass völlig unklar bleibt, wer hier
eigentlich enterbt und verurteilt — außer eben den „wir" (174, 16), die sich
als Anwälte des Lebens in Szene setzen.
173, 16 f. ( — in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche — )] Fehlt in
der Vorarbeit Mp XVI 4 (KSA 14, 437).
173, 20-22 vom Gesichtspunkte einer Philosophie aus, welche nihilistisch war,
welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schil(d schr)ieb] AC 7 bietet auf
engstem Raum N.s fundamentale Abrechnung mit Schopenhauer (vgl. dazu
eingehend Goedert 1988), der nicht einmal abstreite, dass das Mitleiden als
Leiden zum Nichts überreden solle: „je mehr man leidet, desto eher [ist] der
wahre Zweck des Lebens erreicht" (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor-
stellung, Bd. 2, Buch 4, Kap. 49 = Schopenhauer 1873-1874, 3, 730). In seiner
Preisschrift über die Grundlage der Moral wollte Schopenhauer in der Analyse
der „Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen" nur deren drei
gelten lassen, nämlich „Egoismus; der das eigene Wohl will", „Bosheit; die das
fremde Wehe will" und schließlich „Mitleid; welches das fremde Wohl will"
(Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 16 = Schopenhauer
1873-1874, 4, 210). Die ersten beiden entfallen als mögliche „Grundlage der
Moral", so dass einzig das Mitleid als moralische Triebfeder übrig bleibt. AC 7
gibt in Kurzfassung die Schopenhauersche Mitleidsethik mit ihren weit- und
daseinsverneinenden Konsequenzen korrekt wieder und stimmt Schopenhau-
ers Folgerung zu, Mitleiden sei letztlich ein Akt der Willensverneinung. Nur
lässt der Abschnitt sie nicht als akzeptable Handlungsmaxime gelten. N. wählt
die entgegengesetzte Option der individuellen Selbstbehauptung, die alle iden-
tifizierende Regung mit anderer Kreatur, alles Mitleiden kategorisch aus-
schließt. Die hyperboreische Bejahung der Welt ist vor allem auch eine Beja-
hung der Individuation (und des Egoismus).
173, 21 f. auf ihr Schil(d schr)ieb] In Mp XVI 4: „als Ziel setzte" (KSA 14, 437).
173, 22-25 Schopenhauer war in seinem Rechte damit: durch das Mit(leid) wird
das Leben verneint, verneinungswü(rdiger) gemacht, — Mitleiden ist die
Praxis des Nihilismus.] Vgl. GM Vorrede 5, KSA 5, 252, 17-22 und NL 1887/88,
KSA 13, 11[361], 159 (KGW IX 7, W II 3, 35, 12-24). Roberty 1887, 52 hat Schopen-
wie bei Schneider den Fortschritt der Gattung zu implizieren. Diese Implikation
steht in starker Spannung zur Abwehr der Progressionsideologie in AC 4. Dort
war ja der „höhere Typus" das Ergebnis von welthistorischen „Glücksfällen"
oder aber, in AC 3, der „Züchtung", die als hyperboreischer Willensakt nicht
auf die Gesamtheit, sondern auf einzelne, entwicklungsfähige Individuen
abzielt. Im Übrigen täuscht das Reden in 173, 12 f. von „Enterbten und Verurt-
heilten des Lebens" leicht darüber hinweg, dass völlig unklar bleibt, wer hier
eigentlich enterbt und verurteilt — außer eben den „wir" (174, 16), die sich
als Anwälte des Lebens in Szene setzen.
173, 16 f. ( — in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche — )] Fehlt in
der Vorarbeit Mp XVI 4 (KSA 14, 437).
173, 20-22 vom Gesichtspunkte einer Philosophie aus, welche nihilistisch war,
welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schil(d schr)ieb] AC 7 bietet auf
engstem Raum N.s fundamentale Abrechnung mit Schopenhauer (vgl. dazu
eingehend Goedert 1988), der nicht einmal abstreite, dass das Mitleiden als
Leiden zum Nichts überreden solle: „je mehr man leidet, desto eher [ist] der
wahre Zweck des Lebens erreicht" (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor-
stellung, Bd. 2, Buch 4, Kap. 49 = Schopenhauer 1873-1874, 3, 730). In seiner
Preisschrift über die Grundlage der Moral wollte Schopenhauer in der Analyse
der „Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen" nur deren drei
gelten lassen, nämlich „Egoismus; der das eigene Wohl will", „Bosheit; die das
fremde Wehe will" und schließlich „Mitleid; welches das fremde Wohl will"
(Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 16 = Schopenhauer
1873-1874, 4, 210). Die ersten beiden entfallen als mögliche „Grundlage der
Moral", so dass einzig das Mitleid als moralische Triebfeder übrig bleibt. AC 7
gibt in Kurzfassung die Schopenhauersche Mitleidsethik mit ihren weit- und
daseinsverneinenden Konsequenzen korrekt wieder und stimmt Schopenhau-
ers Folgerung zu, Mitleiden sei letztlich ein Akt der Willensverneinung. Nur
lässt der Abschnitt sie nicht als akzeptable Handlungsmaxime gelten. N. wählt
die entgegengesetzte Option der individuellen Selbstbehauptung, die alle iden-
tifizierende Regung mit anderer Kreatur, alles Mitleiden kategorisch aus-
schließt. Die hyperboreische Bejahung der Welt ist vor allem auch eine Beja-
hung der Individuation (und des Egoismus).
173, 21 f. auf ihr Schil(d schr)ieb] In Mp XVI 4: „als Ziel setzte" (KSA 14, 437).
173, 22-25 Schopenhauer war in seinem Rechte damit: durch das Mit(leid) wird
das Leben verneint, verneinungswü(rdiger) gemacht, — Mitleiden ist die
Praxis des Nihilismus.] Vgl. GM Vorrede 5, KSA 5, 252, 17-22 und NL 1887/88,
KSA 13, 11[361], 159 (KGW IX 7, W II 3, 35, 12-24). Roberty 1887, 52 hat Schopen-