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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0128
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Stellenkommentar AC 17, KSA 6, S. 184 105

(Dostoievsky 1886b), von dessen Lektüre N. Overbeck am 23. 02. 1887 enthusi-
astisch berichtet (KSB 8, Nr. 804, S. 27 f., vgl. zu N.s Entdeckung dieses edito-
risch zweifelhaften Textes Miller 1973b). Dass N. von Dostojewskij und Tolstoi
für seine Schilderung jener Welt, auf der das Christentum gewachsen ist, wich-
tige Anregungen empfangen hat, verhehlt er nicht, sondern spricht offen von
einer „seltsamen und kranken Welt, in die uns die Evangelien einführen —
eine Welt, wie aus einem russischen Romane" (AC 31, KSA 6, 201, 30-32) —,
und bedauert, „dass nicht ein Dostoiewsky in der Nähe dieses interessantesten
decadent [sc. Jesus] gelebt hat, ich meine Jemand, der gerade den ergreifenden
Reiz einer solchen Mischung von Sublimem, Krankem und Kindlichem zu emp-
finden wusste" (ebd., KSA 6, 202, 14-17). Im zitierten Brief berichtet N. wesent-
lich weniger wohlwollend auch von seiner Renan-Lektüre (KSB 8, S. 28),
obgleich eine Analyse von AC zeigt, wie sehr N. der Vie de Jesus verpflichtet
bleibt (auch indem er mit AC nach Shapiro 1982, 217-219 historiographisch
einen pointierten Gegenentwurf vorlegt).
Der erste Satz in der Introduction von Renans Werk evoziert nun gerade
das Dunkle, Untergründige, Souterrane der Epoche, in der das Christentum
entsteht: „Une histoire des ,0rigines du Christianisme' devrait embrasser toute
la periode obscure, et, si j'ose le dire, souterraine, qui s'etend depuis les pre-
miers commencements de cette religion jusqu'au moment oü son existence
devient un fait public, notoire, evident aux yeux de tous." (Renan 1863, III.
„Eine Geschichte über die ,Ursprünge des Christentums' müsste die gesamte
undurchsichtige und, ich wage zu sagen, unterirdische Periode umfassen, die
sich von den Anfängen dieser Religion bis zu dem Moment erstreckt, in wel-
chem ihre Existenz eine öffentliche Tatsache wurde, bekannt und offenkundig
vor aller Augen.") N. meint beim „Souterrain-Reich" des christlichen Gottes
jedoch nicht die Dunkelheit, die über den Ursprüngen des Christentums liegt,
sondern es ist die Ursprungsgeschichte selber, die sich in sozialen Unterwelts-
gefilden, beherrscht von Herdeninstinkt und Sklavenmoral, abspielen soll (vgl.
Feuerbach 1904, 294: „Die Nacht ist die Mutter der Religion"). Und etwas Ähnli-
ches klingt in Renans Eingangssatz ebenfalls an: nicht bloß „obscure" sei diese
Periode, vielmehr „si j'ose le dire, souterraine". Auch Renan muss zunächst
zu den kleinen Leuten herabsteigen, was ihm sein Jesus insofern vergilt, als
er nach Renans Einschätzung eine sentimentalisch-moralische Wende in der
Weltgeschichte vollbringt, die sehr weite Kreise zieht und das „Souterrain-
Reich" überwindet. Bei N. werden hingegen die Möglichkeitsbedingungen die-
ses Reiches in der Geschichte des Christentums ständig reproduziert: Das „Sou-
terrain-Reich" ginge erst mit dem Christentum unter. Vgl. NK 188, lOf.
184, 22 f. Und er selbst, so blass, so schwach, so decadent...] In dieser Schilde-
rung von Gottes Dekadenz in AC 17 sieht Wahrig-Schmidt 1988, 455 f. einen
deutlichen Einfluss Feres (1887 u. 1888).
 
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