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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0129
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106 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

184, 23-31 Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die
Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum,
bis er, hypnotisirt durch ihre Bewegungen, selbst Spinne, selbst Metaphysicus
wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus — sub specie Spino-
zae —, nunmehr transfigurirte er sich ins immer Dünnere und Blässere, ward
„Ideal", ward „reiner Geist", ward „absolutum", ward „Ding an sich"... Verfall
eines Gottes: Gott ward „Ding an sich"...] N. nimmt hier Überlegungen auf
aus NL 1888, KSA 13, 16[55], [56] u. [58], 504 f.
184, 25-28 spielt auf die Überformung des Gottesbegriffes bei den griechi-
schen und später den lateinischen Kirchenvätern bis hin zu den Scholastikern
an, „die vom IV(.) Jh. an das Christenthum auf den Weg einer absurden Meta-
physik drängen" (NL 1887/88, KSA 13, 11[397]184, 13-15, korrigiert nach KGW
IX 7, W II 3, 10, 2-4). Hier wiederum handelt es sich um eine Paraphrase von
Renan 1863, 444: „Les moins chretiens des hommes furent, d'une part, les
docteurs de l'Eglise grecque, qui, ä partir du IVe siecle, engagerent le christia-
nisme dans une voie de pueriles discussions metaphysiques, et d'une autre
part, les scolastiques du moyen äge latin". („Die am wenigsten christlichen
Menschen waren einerseits die Lehrer der griechischen Kirche, die ab dem
4. Jahrhundert das Christentum in einen Weg der kindischen metaphysischen
Diskussionen drängten, und andererseits die Scholastiker des lateinischen Mit-
telalters").
Die species aeternitatis, die Ewigkeitsperspektive, unter der Spinoza die
Natur angesehen hatte, mutiert 184, 28 zur species Spinozae. Spinoza wird
zum Prototyp der metaphysischen „Begriffs-Albinos" (184, 25), die den christ-
lichen Gott endgültig zum „,Ding an sich"' (184, 31) transformierten. Damit
ist noch das letzte „göttliche[.] Prädikat" weggefallen, auf dem die Christen
bestanden hatten: „,Heiland', ,Erlöser'" (184, 8 f.). Zu Gott als Spinne siehe
NK 185, 2 f., zur Assoziation von Spinne und Metaphysik NK 177, 32-178, 1. In
AC 17 lebt die Spinnenmetaphorik auch von der Alliteration Spinne / Spinoza.
Spinoza wird als metaphysischer Blutsauger bereits in FW 372, KSA 3, 624
unter Verdacht gestellt. Bei Fragen der Hypnose ist Braid 1882 die N. inspirie-
rende Lektüre.
184, 29 ward „Ideal"] Vgl. NK KSA 6, 61, 4 f.
184, 31 Gott ward „Ding an sich"] Vgl. Oldenberg 1881, 60: „Das Ding an sich
als solches wäre denn doch selbst für den Inder ein allzu unconcreter Gott
gewesen. So personificirte das Neutrum sich zu einem Masculinum, aus dem
Brahma wurde der Gott Brahman, der ,Ahnherr aller Welt', das erstgeborne
unter den Wesen." Zum „Ding an sich" vgl. NK KSA 6, 130, 1-3.
 
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