352 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
menschliche Seite Jesu herausarbeitende Werk Ecce homo. A Survey of the Life
and Work of Jesus Christ des Altertumswissenschaftlers John Robert Seeley
(1834-1895) weit verbreitet. Seeleys Ecce homo erschien erstmals 1866 anonym
in London, erlebte zahlreiche Neuauflagen und wurde 1867 ins Deutsche über-
setzt; N.s Freund Overbeck hat es besessen. Karl Bleibtreu hat in seinem von
N. wohl gelesenen Lyrischen Tagebuch (NPB 144) ein Gedicht, das die Verloren-
heit des lyrischen Ichs fern von Gott thematisiert, mit „Ecce homo!" betitelt
(Bleibtreu 1885, 59). Ein Motiv dieses Gedichtes, nämlich die Langeweile Got-
tes, taucht auch in AC 48 auf, vgl. NK KSA 6, 226, 22.
In der Forschung ist vermutet worden, der Titel „Ecce homo" spiele auf
die „Ecce"-Feiern zum Gedenken an die verstorbenen Pfortenser Schüler an,
die N. während seiner Internatszeit miterlebt hatte (vgl. Schmidt 1993, 188-191
u. Langer 2005, 162; eine Ausgabe der Pfortenser Ecce für 1879 ist in N.s Biblio-
thek erhalten, vgl. NPB 672). EH wäre dann der eigene, vorweggenommene
Nachruf, mit dem N. Verunstaltern seines eigenen Denkens zuvorkommen
wollte. Allerdings bezog sich der Name der Pfortenser Feier nicht auf Johannes
19, 5, sondern auf den Chorgesang Ecce quomodo moritur iustus et nemo perci-
pit corde nach Jesaja 57, 1.
Entscheidender dürfte für N.s Titelwahl ein anderer Bezug gewesen sein,
nämlich zu jenem Wort, das N. in JGB 209 zitiert und das Napoleon nach der
Begegnung am 2. Oktober 1808 in Erfurt über Goethe ausgesprochen haben
soll: ,„Voilä un homme!' — das wollte sagen: ,Das ist ja ein Mann! Und ich
hatte nur einen Deutschen erwartet!"' (KSA 5, 142, 12-14). Eine Quelle hierfür
ist nicht (so KSA 14, 363) Goethes Unterredung mit Napoleon (Goethe 1893, 269-
276), derzufolge Napoleon ihn mit den Worten „vous etes un homme" (ebd.,
271) angesprochen habe, sondern Kanzler Friedrich von Müllers Erinnerungen
aus den Kriegszeiten 1806-1813 (1851), wonach Napoleon bei Goethes Abgang
zu Alexandre Berthier und Pierre Antoine Noel Bruno Daru gesagt habe: „Voilä
un homme" (Müller 1907, 139, vgl. z. B. Goedeke o. J., 170). Müllers Version,
der übrigens im Vorzimmer auf Goethe warten musste (Müller, 137) und also
nicht Ohrenzeuge der kaiserlichen Äußerung gewesen sein kann, kolportiert
in deutscher Übersetzung auch Bleibtreu 1886b, 76: „,Das ist ein Mann!'" 2011
hat Karl Pestalozzi in einem Vortrag auf ein Selbstzeugnis Goethes aufmerksam
gemacht, das den direkten Bezug zu N.s Buchtitel herstellt: Karl Friedrich Graf
von Reinhard hatte Goethe am 24. 11. 1808 auf seine Begegnung mit dem fran-
zösischen Kaiser angesprochen: „Von Ihnen soll der Kaiser gesagt haben: Voilä
un homme! Ich glaub' es; denn er ist fähig dieß zu fühlen und zu sagen."
(Goethe / Reinhard 1850, 43) Goethe antwortete ihm am 02. 12. 1888: „Also ist
das wunderbare Wort des Kaisers womit er mich empfangen hat, auch bis zu
Ihnen gedrungen! Sie sehen daraus daß ich ein recht ausgemachter Heide bin;
menschliche Seite Jesu herausarbeitende Werk Ecce homo. A Survey of the Life
and Work of Jesus Christ des Altertumswissenschaftlers John Robert Seeley
(1834-1895) weit verbreitet. Seeleys Ecce homo erschien erstmals 1866 anonym
in London, erlebte zahlreiche Neuauflagen und wurde 1867 ins Deutsche über-
setzt; N.s Freund Overbeck hat es besessen. Karl Bleibtreu hat in seinem von
N. wohl gelesenen Lyrischen Tagebuch (NPB 144) ein Gedicht, das die Verloren-
heit des lyrischen Ichs fern von Gott thematisiert, mit „Ecce homo!" betitelt
(Bleibtreu 1885, 59). Ein Motiv dieses Gedichtes, nämlich die Langeweile Got-
tes, taucht auch in AC 48 auf, vgl. NK KSA 6, 226, 22.
In der Forschung ist vermutet worden, der Titel „Ecce homo" spiele auf
die „Ecce"-Feiern zum Gedenken an die verstorbenen Pfortenser Schüler an,
die N. während seiner Internatszeit miterlebt hatte (vgl. Schmidt 1993, 188-191
u. Langer 2005, 162; eine Ausgabe der Pfortenser Ecce für 1879 ist in N.s Biblio-
thek erhalten, vgl. NPB 672). EH wäre dann der eigene, vorweggenommene
Nachruf, mit dem N. Verunstaltern seines eigenen Denkens zuvorkommen
wollte. Allerdings bezog sich der Name der Pfortenser Feier nicht auf Johannes
19, 5, sondern auf den Chorgesang Ecce quomodo moritur iustus et nemo perci-
pit corde nach Jesaja 57, 1.
Entscheidender dürfte für N.s Titelwahl ein anderer Bezug gewesen sein,
nämlich zu jenem Wort, das N. in JGB 209 zitiert und das Napoleon nach der
Begegnung am 2. Oktober 1808 in Erfurt über Goethe ausgesprochen haben
soll: ,„Voilä un homme!' — das wollte sagen: ,Das ist ja ein Mann! Und ich
hatte nur einen Deutschen erwartet!"' (KSA 5, 142, 12-14). Eine Quelle hierfür
ist nicht (so KSA 14, 363) Goethes Unterredung mit Napoleon (Goethe 1893, 269-
276), derzufolge Napoleon ihn mit den Worten „vous etes un homme" (ebd.,
271) angesprochen habe, sondern Kanzler Friedrich von Müllers Erinnerungen
aus den Kriegszeiten 1806-1813 (1851), wonach Napoleon bei Goethes Abgang
zu Alexandre Berthier und Pierre Antoine Noel Bruno Daru gesagt habe: „Voilä
un homme" (Müller 1907, 139, vgl. z. B. Goedeke o. J., 170). Müllers Version,
der übrigens im Vorzimmer auf Goethe warten musste (Müller, 137) und also
nicht Ohrenzeuge der kaiserlichen Äußerung gewesen sein kann, kolportiert
in deutscher Übersetzung auch Bleibtreu 1886b, 76: „,Das ist ein Mann!'" 2011
hat Karl Pestalozzi in einem Vortrag auf ein Selbstzeugnis Goethes aufmerksam
gemacht, das den direkten Bezug zu N.s Buchtitel herstellt: Karl Friedrich Graf
von Reinhard hatte Goethe am 24. 11. 1808 auf seine Begegnung mit dem fran-
zösischen Kaiser angesprochen: „Von Ihnen soll der Kaiser gesagt haben: Voilä
un homme! Ich glaub' es; denn er ist fähig dieß zu fühlen und zu sagen."
(Goethe / Reinhard 1850, 43) Goethe antwortete ihm am 02. 12. 1888: „Also ist
das wunderbare Wort des Kaisers womit er mich empfangen hat, auch bis zu
Ihnen gedrungen! Sie sehen daraus daß ich ein recht ausgemachter Heide bin;