Stellenkommentar EH Vorwort, KSA 6, S. 255-257 355
Im 20. Jahrhundert wird die Selbstvergewisserung durch das eigene Wer-
den dialektisch gebrochen; in der Fortführung N.s wird beispielsweise bei
Ernst Bloch (1885-1977) gar kein Sein mehr in Aussicht gestellt, sondern nur
noch ein Werden. So beginnt seine Tübinger Einleitung in die Philosophie mit
einer Kombination von Descartes' Seins- und Selbstvergewisserung und N.s
EH-Untertitel, freilich ganz ohne namentliche Reverenzen: „Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir erst." (Bloch 1965, 1, 11) Zur Interpretation
von Titel und Untertitel von EH vgl. auch Platt 1993, 51-57.
Vorwort.
1
257, 3-5 dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit
herantreten muss, die je an sie gestellt wurde) Gemeint ist die „Umwerthung
aller Werthe", die N. ab Ende November 1888 im Antichrist für realisiert hielt.
257, 5 f. scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin] Die Jünger des
unverstandenen Jesus haben bei dessen Tod nach AC 40, KSA 6, 213, ll f. vor
dem „eigentliche[n] Räthsel" gestanden: „,wer war das?" (KSA 6, 213, ll f.)
Das Ich, das der Welt unter dem Namen N. ebenfalls Rätsel aufgibt, wird damit
in die Nähe des Erlöser-Typus gerückt. Vgl. Detering 2010, 131.
257, 6 f. ich habe mich nicht „unbezeugt gelassen"] Die Wendung „unbezeugt
gelassen" kommt in N.s Werken nur hier vor. Im Wortlaut der Luther-Bibel
predigten Barnabas und Paulus vor ihrer (Beinah-)Steinigung in Lystra zum
Volk vom „lebendigen GOtt", „Der in den vergangenen Zeiten hat lassen alle
Heiden wandeln ihre eigene [sic] Wege. /17/ Und zwar hat er sich selbst nicht
unbezeuget gelassen, hat uns viel Gutes gethan, und vom Himmel Regen und
fruchtbare Zeiten gegeben, unsere Herzen erfüllet mit Speise und Freude"
(Apostelgeschichte 14, 15-17. Die Bibel: Neues Testament 1818, 159). Während
sich die beiden Apostel dagegen verwahrten, als Götter verehrt zu werden (14,
15), wie es ihnen widerfahren war (14, 12 f.), und auf den einzigen Gott verwie-
sen, der sich in Natur und Geschichte eben nicht unbezeugt gelassen habe,
nimmt N. das göttliche Attribut der Selbstbezeugung ungeniert für sich selbst
in Anspruch.
257, 11 es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe?...] Vgl. AC Vorwort,
KSA 6, 167, 5 f. zum Motiv des posthumen Geboren-Werdens. An Georg Brandes
antwortete N. am 23. 05. 1888 auf die Ankündigung seiner N.-Vorlesungen in
Im 20. Jahrhundert wird die Selbstvergewisserung durch das eigene Wer-
den dialektisch gebrochen; in der Fortführung N.s wird beispielsweise bei
Ernst Bloch (1885-1977) gar kein Sein mehr in Aussicht gestellt, sondern nur
noch ein Werden. So beginnt seine Tübinger Einleitung in die Philosophie mit
einer Kombination von Descartes' Seins- und Selbstvergewisserung und N.s
EH-Untertitel, freilich ganz ohne namentliche Reverenzen: „Ich bin. Aber ich
habe mich nicht. Darum werden wir erst." (Bloch 1965, 1, 11) Zur Interpretation
von Titel und Untertitel von EH vgl. auch Platt 1993, 51-57.
Vorwort.
1
257, 3-5 dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit
herantreten muss, die je an sie gestellt wurde) Gemeint ist die „Umwerthung
aller Werthe", die N. ab Ende November 1888 im Antichrist für realisiert hielt.
257, 5 f. scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin] Die Jünger des
unverstandenen Jesus haben bei dessen Tod nach AC 40, KSA 6, 213, ll f. vor
dem „eigentliche[n] Räthsel" gestanden: „,wer war das?" (KSA 6, 213, ll f.)
Das Ich, das der Welt unter dem Namen N. ebenfalls Rätsel aufgibt, wird damit
in die Nähe des Erlöser-Typus gerückt. Vgl. Detering 2010, 131.
257, 6 f. ich habe mich nicht „unbezeugt gelassen"] Die Wendung „unbezeugt
gelassen" kommt in N.s Werken nur hier vor. Im Wortlaut der Luther-Bibel
predigten Barnabas und Paulus vor ihrer (Beinah-)Steinigung in Lystra zum
Volk vom „lebendigen GOtt", „Der in den vergangenen Zeiten hat lassen alle
Heiden wandeln ihre eigene [sic] Wege. /17/ Und zwar hat er sich selbst nicht
unbezeuget gelassen, hat uns viel Gutes gethan, und vom Himmel Regen und
fruchtbare Zeiten gegeben, unsere Herzen erfüllet mit Speise und Freude"
(Apostelgeschichte 14, 15-17. Die Bibel: Neues Testament 1818, 159). Während
sich die beiden Apostel dagegen verwahrten, als Götter verehrt zu werden (14,
15), wie es ihnen widerfahren war (14, 12 f.), und auf den einzigen Gott verwie-
sen, der sich in Natur und Geschichte eben nicht unbezeugt gelassen habe,
nimmt N. das göttliche Attribut der Selbstbezeugung ungeniert für sich selbst
in Anspruch.
257, 11 es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe?...] Vgl. AC Vorwort,
KSA 6, 167, 5 f. zum Motiv des posthumen Geboren-Werdens. An Georg Brandes
antwortete N. am 23. 05. 1888 auf die Ankündigung seiner N.-Vorlesungen in