380 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Der „Nächstenliebe" stellte Zarathustra eine „Fernsten-Liebe" entgegen
(Za I Von der Nächstenliebe, KSA 4, 79, lf.). „Nächstenliebe" galt N. entspre-
chend als Phänomen verzärtelter Zeiten: „Die starken Zeiten, die vorneh-
men Culturen sehen im Mitleiden, in der ,Nächstenliebe', im Mangel an Selbst
und Selbstgefühl etwas Verächtliches." (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen
37, KSA 6, 138, 5-7) Was in GD noch allgemeine kulturgeschichtliche Diagnose
war, wird in EH Warum ich so weise bin 4 mit der eigenen Lebenserfahrung
abgeglichen und damit quasi authentifiziert: Nicht einfach nur ein kultureller
Schaden in der weiten geschichtlichen Welt wird beklagt, sondern am eigenen
Leib verspürt. In AC kommt der doch so jüdisch-christliche Begriff der „Nächs-
tenliebe" übrigens gar nicht vor. Das Gebot der Nächstenliebe, d. h. den Nächs-
ten wie sich selbst zu lieben, steht schon in Leviticus 19, 18 und wird in Mat-
thäus 5, 43-45 als Gebot der Feindesliebe noch überboten. N.s „Fernsten-
Liebe" in Za I reproduziert diesen Gestus der Überbietung.
270, 19-28 das Mitleiden heisst nur bei decadents eine Tugend. Ich werfe
den Mitleidigen vor, dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor
Distanzen leicht abhanden kommt, dass Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel
riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht, — dass mitlei-
dige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein grosses Schicksal, in
eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hinein-
greifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen
Tugenden] Die Mitleidskritik entfaltet N. ausführlich in AC 7, KSA 6, 172-174.
Dabei zehrt er dort — ohne es explizit zu machen — von Kants scharfer Zurück-
weisung des ansteckungsträchtigen Mitleids in der Metaphysik der Sitten, vgl.
NK KSA 6, 173, 1-6, während er in EH Warum ich so weise bin 4 eine antikanti-
sche Spitze gegen die Güte des „guten Willens" zugrundelegt (siehe NK 270,
13-15), um so einmal mehr jede Verwechslungsgefahr auszuschließen.
270, 29 „Versuchung Zarathustra's"] Unter diesem Titel wollte N. im Herbst
1888 den bis dahin nur als Privatdruck erschienenen Za IV publizieren, vgl.
NL 1888, KSA 13, 22[13], [15] u. [16], 589 f.
271, 2 Beweis von Kraft] Zum christlichen Begriff des „Beweises der Kraft",
der hier antichristlich usurpiert wird, siehe NK KSA 6, 57, 6.
5
271, 6-8 Gleich Jedem, der nie unter seines Gleichen lebte und dem der Begriff
„Vergeltung" so unzugänglich ist wie etwa der Begriff „gleiche Rechte"] Vgl. NK
Der „Nächstenliebe" stellte Zarathustra eine „Fernsten-Liebe" entgegen
(Za I Von der Nächstenliebe, KSA 4, 79, lf.). „Nächstenliebe" galt N. entspre-
chend als Phänomen verzärtelter Zeiten: „Die starken Zeiten, die vorneh-
men Culturen sehen im Mitleiden, in der ,Nächstenliebe', im Mangel an Selbst
und Selbstgefühl etwas Verächtliches." (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen
37, KSA 6, 138, 5-7) Was in GD noch allgemeine kulturgeschichtliche Diagnose
war, wird in EH Warum ich so weise bin 4 mit der eigenen Lebenserfahrung
abgeglichen und damit quasi authentifiziert: Nicht einfach nur ein kultureller
Schaden in der weiten geschichtlichen Welt wird beklagt, sondern am eigenen
Leib verspürt. In AC kommt der doch so jüdisch-christliche Begriff der „Nächs-
tenliebe" übrigens gar nicht vor. Das Gebot der Nächstenliebe, d. h. den Nächs-
ten wie sich selbst zu lieben, steht schon in Leviticus 19, 18 und wird in Mat-
thäus 5, 43-45 als Gebot der Feindesliebe noch überboten. N.s „Fernsten-
Liebe" in Za I reproduziert diesen Gestus der Überbietung.
270, 19-28 das Mitleiden heisst nur bei decadents eine Tugend. Ich werfe
den Mitleidigen vor, dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor
Distanzen leicht abhanden kommt, dass Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel
riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht, — dass mitlei-
dige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein grosses Schicksal, in
eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hinein-
greifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen
Tugenden] Die Mitleidskritik entfaltet N. ausführlich in AC 7, KSA 6, 172-174.
Dabei zehrt er dort — ohne es explizit zu machen — von Kants scharfer Zurück-
weisung des ansteckungsträchtigen Mitleids in der Metaphysik der Sitten, vgl.
NK KSA 6, 173, 1-6, während er in EH Warum ich so weise bin 4 eine antikanti-
sche Spitze gegen die Güte des „guten Willens" zugrundelegt (siehe NK 270,
13-15), um so einmal mehr jede Verwechslungsgefahr auszuschließen.
270, 29 „Versuchung Zarathustra's"] Unter diesem Titel wollte N. im Herbst
1888 den bis dahin nur als Privatdruck erschienenen Za IV publizieren, vgl.
NL 1888, KSA 13, 22[13], [15] u. [16], 589 f.
271, 2 Beweis von Kraft] Zum christlichen Begriff des „Beweises der Kraft",
der hier antichristlich usurpiert wird, siehe NK KSA 6, 57, 6.
5
271, 6-8 Gleich Jedem, der nie unter seines Gleichen lebte und dem der Begriff
„Vergeltung" so unzugänglich ist wie etwa der Begriff „gleiche Rechte"] Vgl. NK