Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0407
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
384 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

adversaire seculaire le soldat turc. L'un et l'autre ont une capacite de souf-
france etrangere aux peuples de l'Occident." („Eine der Qualitäten, die das
Klima und der Kampf gegen die Natur bei dem Groß-Russen am stärksten ent-
wickelt hat, ist der passive Mut, die negative Energie, die Kraft der Trägheit.
[...] Das Leben im Einklang mit der Geschichte hat den Groß-Russen zu einem
Stoizismus geführt, dessen Heroisches er selbst nicht versteht — zu einem Stoi-
zismus aus einem Gefühl der Schwäche und nicht aus einem Gefühl des Stol-
zes, oft zu einfach, zu naiv, um immer würdig zu erscheinen. Niemand kann
wie ein Russe leiden, niemand sterben wie er. In seinem ruhigen Mut ange-
sichts des Leidens und des Todes liegt die Resignation eines verletzten Tieres
oder eines gefangenen Indianers, aber immer aufgerichtet durch eine ruhige
religiöse Überzeugung. / Im März 1868, zu Beginn der Fastenzeit, bin ich in
Palästina das erste Mal russischen Bauern begegnet. Ich wohnte im Zelt am
Ufer der Salomonischen Sümpfe, nicht weit von Bethlehem entfernt. Die Nacht
war wegen eines in Syrien in dieser Jahreszeit häufigen Unwetters mit Wind
und Regen unruhig gewesen. Eine Gruppe russischer Pilger, die die Heilige
Erde in Gruppen, zu Fuß, mit einem Wanderstab in der Hand, ohne weiteres
Gepäck bis auf eine Schultertasche und eine kleine Schüssel durchquerten,
hatte sich uns angeschlossen. Es waren /151/ alles Bauern; unter ihnen Männer
und Frauen, die meisten waren alt. Sie suchten, müde von den Strapazen einer
langen Reise und eines langen Marsches, rund um unsere Zelte oder am Fuß
einer Mauerruine nach Schutz vor dem Unwetter. Im Morgengrauen hätten sie
das griechische Kloster von Bethlehem erreichen wollen; aber obwohl die Dis-
tanz nur einige Kilometer war, hinderten die Kälte und die Müdigkeit einige
dort hinzukommen. Wenn ihre Kräfte am Ende waren, ließen sie sich auf den
Boden fallen und die anderen gingen still an ihnen vorbei, gaben sie auf, wie
diese sich selbst aufgaben. Wir folgten ihnen mit den Pferden, ausgelaugt und
müde waren auch wir, und wir suchten Unterschlupf im lateinischen Kloster
von Bethlehem. So begegnete ich zwei von diesen Muschiks auf den Steinen
am Weg liegend, der sich in einen Bach verwandelt hatte. Ich versuchte vergeb-
lich, sie zum Aufstehen zu bewegen, sie mit Rum wiederzubeleben, sie auf das
Pferd zu heben; sie schienen bloß sterben zu wollen. Als wir in Bethlehem
ankamen, schickten wir ihnen Hilfe; schon am Morgen hatte man einen Russen
und zwei Russinnen begraben, die man tot auf den Wegen in der Umgebung
gefunden hatte. / Mit demselben Gefühl, mit demselben ruhigen und sanften
Fatalismus ließen sich während des Krim-Kriegs die russischen Soldaten durch
die Steppen des Südens führen, bis zur Erschöpfung marschierend und entlang
der Straßen zu Hunderttausenden sterbend, ohne einen Schrei der Revolte,
fast ohne Klage oder ein Geräusch. Es war mit derselben Geduld, derselben
resignierten Energie, dass sie in den Balkankriegen alle Extreme der Kälte, der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften