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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0457
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434 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

291, 15-26 An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht. / Fernher kam
Gesang: / goldener Tropfen quoll's / über die zitternde Fläche weg. / Gondeln,
Lichter, Musik — / trunken schwamm's in die Dämmrung hinaus...// Meine Seele,
ein Saitenspiel, / sang sich, unsichtbar berührt, / heimlich ein Gondellied dazu, /
zitternd vor bunter Seligkeit. / — Hörte Jemand ihr zu?...] Zur Interpretation und
zum lyrikgeschichtlichen Kontext des Gedichts siehe v. a. Lorenz 2008, 114-
132 und Mönig 2012, zum Motiv der „braunen Nacht" vgl. Groddeck 1991, 2,
86 f. sowie NWB 1, 416. Den lebensgeschichtlichen Hintergrund mag man in
folgender Mitteilung N.s an Köselitz vom 02. 07. 1885 vermuten: „Die letzte
Nacht an der Rialtobrücke brachte mir noch eine Musik, die mich zu Thränen
bewegte, ein unglaubliches altmodisches Adagio, wie als ob es noch gar kein
Adagio vorher gegeben hätte." (KSB 7, Nr. 608, S. 61, Z. 34-37) Schon früh stan-
den N. die einschlägigen Äußerungen Goethes vor Augen, wie aus einem Schul-
aufsatz hervorgeht, in dem er schrieb: „Goethe erzählt in seiner italiänischen
Reise, welchen seltsamen Zauber der Gesang der Gondoliere in Venedig auf
ihn geübt habe: ,als Stimme aus der Ferne, sagt er, klingt es höchst sonderbar,
wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas Unglaubliches, bis zu Thränen
Rührendes.' Ähnlich empfinden wir, wenn wir eine tiefe menschliche Leiden-
schaft [...] gleichsam aus der Ferne hindurchklingen hören; es ist das Menschli-
che, das durch die Nacht trauriger Zeiten wie ein fernes Lied an unser Herz
dringt" (NL 1863, KGW I 3, 15[3], 121, 29-122, 4). In Goethes Italiänischer Reise
lautet der Passus aus Venedig vom 6. Oktober 1786 in der von N. benutzten
Ausgabe wie folgt: „Auf heute Abend hatte ich mir den famosen Gesang der
Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen.
Dieses muss wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es
gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Monden-
schein bestieg /96/ ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten;
sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. [...] Mit einer
durchdringenden Stimme — das Volk schätzt Stärke vor allem — sitzt er am
Ufer einer Insel, eines Kanals auf einer Barke und lässt sein Lied schallen, so
weit er kann. Über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt
es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgen-
den Vers antwortet; hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo
des andern. [...] Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie
eine Klage ohne Trauer; es /97/ ist darin etwas Unglaubliches, bis zu Thränen
Rührendes. [...] Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit
ein anderer, gleich Gestimmter höre und antworte." (Goethe 1856d, 23, 95-97).
Ganz offensichtlich im Bewusstsein dieser Passage hatte Wagner die Leser
seiner Beethoven-Gedenkschrift von 1870 wissen lassen: „In schlafloser Nacht
trat ich einst auf den Balkon meines Fensters am großen Kanal in Venedig:
 
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