Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0537
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
514 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

er sich in Klingenbrunn im Bayrischen Wald auf, kehrte jedoch auf Drängen
seiner Schwester pünktlich zum Beginn der Aufführungen nach Bayreuth
zurück. Zeugnisse N.s aus dieser Zeit sind spärlich und zuverlässige Berichte
von Zeitgenossen fehlen (vgl. aber CBT 370-376). Seiner Schwester, die sich in
Bayreuth aufhielt, schrieb N. aus Klingenbrunn am 06. 08. 1876: „Ich muß alle
Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Som-
mers zu ertragen. Auch meine Freunde werde ich nicht sehen; es ist alles jetzt
für mich Gift und Schaden." (KSB 5, Nr. 547, S. 182, Z. 27-30).
323, 23 Tribschen — eine ferne Insel der Glückseligen] Zwischen 1869 und 1872
hielt sich N. etliche Male für kurze Besuche im Hause Richard und Cosima
Wagners in Tribschen bei Luzern auf (vgl. CBT 197-266). Er war dort ein gern
gesehener Gast, den wachsende Zuneigung und Freundschaft mit dem Gastge-
berpaar verbanden. Über Tribschen schrieb er dem Freund Erwin Rohde am
03. 09. 1869: „was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbe-
schreiblich. Schopenhauer und Goethe, Aeschylus und Pindar leben noch,
glaub es nur." (KSB 3, Nr. 28, S. 52, Z. 43-45) Wenige Wochen zuvor hatte er
sich nicht minder enthusiastisch über Wagner geäußert: „dieser Mann, über
den kein Urtheil bis jetzt gesprochen ist, das ihn völlig charakterisirte, zeigt
eine so unbedingte makellose Größe in allen seinen Eigenschaften, eine solche
Idealität seines Denkens und Wollens, eine solche unerreichbar edle und
warmherzige Menschlichkeit, eine solche Tiefe des Lebensernstes, daß ich
immer das Gefühl habe vor einem Auserwählten der Jahrhunderte zu stehen.
[...] Diese Tage, die ich in Tribschen in diesem Sommer verlebt habe, sind
unbedingt die schätzenswerthesten Resultate meiner Baseler Professur." (N. an
Gustav Krug, 04. 08. 1869, KSB 3, Nr. 20, S. 37-39, Z. 18-71) In die Zeit der
Freundschaft mit Wagner und der vielen Besuche in Tribschen fällt die Entste-
hung der Geburt der Tragödie. N.s Hingabe an das Wagnersche Projekt ging
1872 so weit, dass er dem Komponisten anbot, seine Basler Professur aufzuge-
ben und als Vortragsreisender für das Bayreuther Unternehmen auf Werbetour
zu gehen. Doch Wagner und seine Frau lehnten dies ab. Als die Familie im
April 1872 nach Bayreuth übersiedelte, schrieb N.: „Vorigen Sonnabend war
trauriger und tiefbewegter Abschied von Tribschen. Tribschen hat nun aufge-
hört: wie unter lauter Trümmern gingen wir herum, die Rührung lag überall,
in der Luft, in den Wolken, der Hund fraß nicht, die Dienerfamilie war, wenn
man mit ihr redete, in beständigem Schluchzen. Wir packten die Manuscripte,
Briefe und Bücher zusammen — ach es war so trostlos! Diese drei Jahre, die
ich in der Nähe von Tribschen verbrachte, in denen ich 23 Besuche dort
gemacht habe — was bedeuten sie für mich! Fehlten sie mir, was wäre ich! Ich
bin glücklich, in meinem Buche [GT] mir selbst jene Tribschener Welt petrificirt
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften