Stellenkommentar EH FW, KSA 6, S. 331-333 529
chen Wissenschaft blickt zum einen in N.s Denkerzukunft — Also sprach
Zarathustra — als auch in seine freigeistige Vergangenheit. Drittens aber war
der heilige Januarius N. durchaus als Figur aus der Hagiographie bekannt, und
zwar mit seinem berühmtesten Wunder, wie aus NL 1880/81, KSA 9, 8[9], 385
hervorgeht: „Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkennt-
niß glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer
noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben." San Gennaro oder der
heilige Januarius soll unter Kaiser Diokletian um 305 n. Chr. als Bischof von
Benevent das Martyrium erlitten haben (mit Genua hat er — gegen KGB III 7/
1, S. 279 — hagiographisch nichts zu tun); er gilt als Patron Neapels (nament-
lich gegen Vesuvausbrüche), wo neben seinem abgeschlagenen Haupt im Dom
auch zwei Ampullen mit seinem angeblich kristallisierten Blut aufbewahrt wer-
den, das regelmäßig wieder flüssig werden soll.
Dieses allgemein bekannte Blutwunder hat Sanctus Januarius als Referenz-
figur attraktiv erscheinen lassen: Januarius steht, wie das Motto-Gedicht zeigt,
sowohl als Monat wie als Heiliger für die Verflüssigung des Festgefügten und
Eingefrorenen, sprich: der Tradition der Moral und der Gewohnheiten des Den-
kens. Wie wichtig N. dieses Verflüssigungsmotiv war, geht auch aus einer
Bemerkung hervor, die er in seinem Brief am 06. 04. 1883 Köselitz gegenüber
machte. Darin zitierte er noch einmal die Verszeilen „,der du mit dem Flam-
menspeere meiner Seele Eis zertheilt, daß sie brausend nun zum Meere
ihrer höchsten Hoffnung eilt"' (KSB 6, Nr. 401, S. 358, Z. 14-16). In N.s
Korrespondenz wird auf den heiligen Januarius im Zusammenhang mit dem
vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft gelegentlich angespielt (vgl. z. B. Carl
von Gersdoff an N., 11. 09. 1882, KGB III 2, Nr. 142, S. 285, Z. 7f.; Jacob Burck-
hardt an N., 13. 09. 1882, KGB III 2, Nr. 144, S. 288, Z. 7f.; N. an Ree, ca. 15. 09.
1882, KSB 6, Nr. 303, S. 258, Z. 19 f.; N. an Overbeck, 31. 12. 1882, KSB 6, Nr. 366,
S. 314, Z. 27 f.); das Motiv der Dankbarkeit gegenüber einem großen Gelingen
artikuliert sich in diesem Gedicht — und im Übrigen auch in N.s Brief an Over-
beck vom 20. 01. 1883: „Im Grunde ist ,die fröhliche Wissenschaft' nur eine
überschwängliche Art sich zu freuen, daß man einen Monat reinen Himmel
über sich gehabt hat." (KSB 6, Nr. 369, S. 318 f., Z. 18-21).
Das christlich-mythologische Motiv des heiligen Januarius war N. aber, wie
NL 1880/81, KSA 9, 8[9], 385 beweist, schon vor seiner Erfahrung eminenter
Schaffenskraft im Genueser Januar 1882 geläufig; damals konnte er den Heili-
gen mit seinem Verflüssigungswunder als Chiffre für die eigene Erfahrung ent-
sakralisieren. Brusotti 1997, 384 hat als Quellen für N.s Kenntnisse von San
Gennaro einige Bemerkungen in Stendhals Promenades dans Rome plausibel
gemacht (Stendhal 1853, 1, 62 f., 80 u. 86); auch im zweiten Band von Georg
Friedrich Schoemanns Griechischen Alterthümern konnte sich N. über den rup-
chen Wissenschaft blickt zum einen in N.s Denkerzukunft — Also sprach
Zarathustra — als auch in seine freigeistige Vergangenheit. Drittens aber war
der heilige Januarius N. durchaus als Figur aus der Hagiographie bekannt, und
zwar mit seinem berühmtesten Wunder, wie aus NL 1880/81, KSA 9, 8[9], 385
hervorgeht: „Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkennt-
niß glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer
noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben." San Gennaro oder der
heilige Januarius soll unter Kaiser Diokletian um 305 n. Chr. als Bischof von
Benevent das Martyrium erlitten haben (mit Genua hat er — gegen KGB III 7/
1, S. 279 — hagiographisch nichts zu tun); er gilt als Patron Neapels (nament-
lich gegen Vesuvausbrüche), wo neben seinem abgeschlagenen Haupt im Dom
auch zwei Ampullen mit seinem angeblich kristallisierten Blut aufbewahrt wer-
den, das regelmäßig wieder flüssig werden soll.
Dieses allgemein bekannte Blutwunder hat Sanctus Januarius als Referenz-
figur attraktiv erscheinen lassen: Januarius steht, wie das Motto-Gedicht zeigt,
sowohl als Monat wie als Heiliger für die Verflüssigung des Festgefügten und
Eingefrorenen, sprich: der Tradition der Moral und der Gewohnheiten des Den-
kens. Wie wichtig N. dieses Verflüssigungsmotiv war, geht auch aus einer
Bemerkung hervor, die er in seinem Brief am 06. 04. 1883 Köselitz gegenüber
machte. Darin zitierte er noch einmal die Verszeilen „,der du mit dem Flam-
menspeere meiner Seele Eis zertheilt, daß sie brausend nun zum Meere
ihrer höchsten Hoffnung eilt"' (KSB 6, Nr. 401, S. 358, Z. 14-16). In N.s
Korrespondenz wird auf den heiligen Januarius im Zusammenhang mit dem
vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft gelegentlich angespielt (vgl. z. B. Carl
von Gersdoff an N., 11. 09. 1882, KGB III 2, Nr. 142, S. 285, Z. 7f.; Jacob Burck-
hardt an N., 13. 09. 1882, KGB III 2, Nr. 144, S. 288, Z. 7f.; N. an Ree, ca. 15. 09.
1882, KSB 6, Nr. 303, S. 258, Z. 19 f.; N. an Overbeck, 31. 12. 1882, KSB 6, Nr. 366,
S. 314, Z. 27 f.); das Motiv der Dankbarkeit gegenüber einem großen Gelingen
artikuliert sich in diesem Gedicht — und im Übrigen auch in N.s Brief an Over-
beck vom 20. 01. 1883: „Im Grunde ist ,die fröhliche Wissenschaft' nur eine
überschwängliche Art sich zu freuen, daß man einen Monat reinen Himmel
über sich gehabt hat." (KSB 6, Nr. 369, S. 318 f., Z. 18-21).
Das christlich-mythologische Motiv des heiligen Januarius war N. aber, wie
NL 1880/81, KSA 9, 8[9], 385 beweist, schon vor seiner Erfahrung eminenter
Schaffenskraft im Genueser Januar 1882 geläufig; damals konnte er den Heili-
gen mit seinem Verflüssigungswunder als Chiffre für die eigene Erfahrung ent-
sakralisieren. Brusotti 1997, 384 hat als Quellen für N.s Kenntnisse von San
Gennaro einige Bemerkungen in Stendhals Promenades dans Rome plausibel
gemacht (Stendhal 1853, 1, 62 f., 80 u. 86); auch im zweiten Band von Georg
Friedrich Schoemanns Griechischen Alterthümern konnte sich N. über den rup-