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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0567
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544 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

N.s zunächst konsequente Vertuschung der Textautorschaft zeugt in para-
doxer Weise davon, dass gerade die Verschmelzung seiner eigenen Komposi-
tion mit Lou von Salomes Gedicht dem Werk in seinen Augen einen so hohen
Stellenwert verlieh. Man könnte darin die Tendenz verwirklicht sehen, Lou von
Salome für seine Philosophie zu vereinnahmen, indem er ihre intellektuelle
Eigenständigkeit verdrängte und sie zu einer Jüngerin' degradierte. Das frei-
mütige Bekenntnis zu ihrer Autorschaft in Ecce homo lässt sich hingegen nicht
nur als Beleg dafür nehmen, dass die Verletzung durch den Freundschafts-
bruch mittlerweile vernarbt war, sondern vor allem erscheint es als ein prakti-
scher Beweis für die eigene Philosophie des tragischen und zugleich bejahen-
den Pathos: N. will zu seiner eigenen Vergangenheit, auch zu seiner „Pein"
(vgl. NK 336, 21-23) unbedingt Ja sagen — mag sie noch so schmerzlich anmu-
ten. Im Hinweis auf Lou in EH Za 1 wird sogar die Erinnerung an diesen
Schmerz zum Verschwinden gebracht, indem jeder Hinweis auf die empfun-
dene narzisstische Kränkung entfällt.
336, 21-23 Wer den letzten Worten des Gedichts überhaupt einen Sinn zu ent-
nehmen weiss, wird errathen, warum ich es vorzog und bewunderte: sie haben
Grösse} Zu diesen „letzten Worten des Gedichts" bemerkte N. am 27. 10. 1887
gegenüber Köselitz: „die Schlußwendung ,wohlan! noch hast du deine Pein!...'
ist das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne, von lästerlicher Herausfor-
derung des Schicksals durch einen Exceß von Muth und Übermuth: — mir läuft
immer noch jedes Mal, wenn ich die Stelle sehe (und höre), ein kleiner Schau-
der über den Leib. Man sagt, daß für solche ,Musik' die Erinnyen Ohren
haben." (KSB 8, Nr. 940, S. 178, Z. 19-25) Georg Brandes, der die Partitur im
Mai 1888 von N. erhalten hatte, äußerte sich über das Ende des Liedtextes,
von dem er annahm, er stamme von N. selbst, in ähnlichem Sinne: „Wenn
Achilles es vorzog, Tagelöhner auf der Erde, statt König im Reich der Schatten
zu sein, so ist die Aeußerung schwach und zahm im Vergleich mit diesem
Ausbruch von Lebensdurst, der in seiner Paradoxie selbst nach dem Kelch der
Qualen lechzt." (Brandes 1890, 85) Dem Herausgeber ihrer Memoiren zufolge
bemerkte Lou Andreas-Salome „zu dem Schluß des ,bombastischen' Gedichtes,
für sie drücke er aus, daß sie auch das durch den Gottesverlust ,beraubte'
Leben noch ganz habe umfassen wollen, für ihn, Nietzsche, sei der Schluß ein
Ausdruck seines amor fati gewesen" (Andreas-Salome 1968, 225). Sigmund
Freud soll gegenüber Andreas-Salome gegen die letzten Verse des Gedichts
eingewandt haben: „Nein! wissen Sie, da täte ich nicht mit! Mir würde gera-
dezu schon ein gehöriger irreparabler — Stockschnupfen vollauf genügen,
mich von solchen Wünschen zu kurieren!" (Ebd., 168).
336, 27 (Letzte Note der Oboe cis nicht c. Druckfehler.)] An den Verleger
Fritzsch schrieb N. nach der Veröffentlichung des Hymnus am 05. 10. 1887:
 
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