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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0575
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552 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

haftet auch den späteren poetologischen Aktualisierungen im Christentum oft-
mals noch an (vgl. z. B. Brockhaus 1894-1896, 9, 634 sowie Meyer 1885-1892,
8, 985, jeweils ausschließlich zur spirituell-religiösen Bedeutung des Wortes
„Inspiration"). Auch an die in der Renaissance erfolgte Wiederbelebung von
poetologischen Inspirationstheorien mochte N. gedacht haben, als er mit sei-
ner persönlichen Inspirationserfahrung an das Erleben der „Dichter starker
Zeitalter" anzuschließen suchte. Er inszeniert sich selbst als inspirierter Dich-
ter — und hält zugleich die mit dem Inspirationsbewusstsein traditionell ver-
bundenen Vorstellungen des Numinosen auf Abstand.
Ein prominentes Rezeptionszeugnis für N.s Beschreibung seines Inspirati-
onserlebnisses in EH Za 3 findet sich in Thomas Manns Doktor Faustus, wo
sich der Teufel mit folgenden Worten an den in vielen biographischen Einzel-
heiten N. nachgebildeten Komponisten Adrian Leverkühn wendet: „Wer weiß
heute noch, wer wußte auch nur in klassischen Zeiten, was Inspiration, was
echte, alte urtümliche Begeisterung ist, von Kritik, lahmer Besonnenheit,
tötender Verstandskontrolle ganz unangekränkelte Begeisterung, die heilige
Verzuckung? [...] Eine wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und
gläubige Inspiration, eine Inspiration, bei der es keine Wahl, kein Bessern und
Basteln gibt, bei der alles als seliges Diktat empfangen wird, der Schritt stockt
und stürzt, sublime Schauer den Heimgesuchten vom Scheitel zu den Fußspit-
zen überrieseln, ein Tränenstrom des Glücks ihm aus den Augen bricht, — die
ist nicht mit Gott, der dem Verstände zuviel zu tun übrig läßt, die ist nur mit
dem Teufel, dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich." (Mann 2007, 10.1,
346 f., vgl. Meyer 1993, 358 f.) In seinem Vortrag Nietzsches Philosophie im
Lichte unserer Erfahrung griff Mann N.s Inspirationsbeschreibung in EH Za 3
unmittelbar auf. Sein eigenes Genie, bemerkte Mann dort, habe dem genialen
Psychologen N. nicht „Objekt demaskierender Erkenntnis" werden können, es
sei ihm vielmehr „der Gegenstand staunender Bewunderung, überschwängli-
chen Selbstgefühls, krasser Hybris" gewesen. Im Hinblick auf das Verhältnis
von Krankheit und Inspiration in N.s Schaffensprozess schrieb Mann ferner:
„In voller Naivität verherrlicht Nietzsche die beseligende Kehrseite seines Lei-
dens, diese euphorischen Schadloshaltungen und Überkompensationen, die
zum Bilde gehören. Er tut es am großartigsten in dem fast schon hemmungslo-
sen Spätwerk ,Ecce homo', dort, wo er den körperlich und geistig unerhört
gehobenen Zustand preist, worin er in unglaublich kurzer Zeit seine Zara-
thustra-Dichtung hervorbrachte. Die Seite ist ein stilistisches Meisterstück [...]
[Es folgt ein Zitat von EH Za 3, KSA 6, 339, 9-11]. Und nun beginnt eine Schilde-
rung von Erleuchtungen, Entzückungen, Elevationen, Einflüsterungen, göttli-
cher Kraft- und Machtgefühle, die er nicht umhinkann, als etwas Atavistisches,
Dämonisch-Rückschlägiges, anderen, ,stärkeren' und gottnäheren Zuständen
 
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