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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0649
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626 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

zeichnet, ist, zum ersten Male die Moral entdeckt zu haben und, folglich,
gegen sie eines Wortes bedürftig zu sein, das den Sinn einer Kriegserklärung
hat. Moral scheint mir die größte Unsauberkeit die die Menschheit auf dem
Gewissen hat, eine Instinkt gewordene Schlechtigkeit, eine Falschmünzerei in
psychologicis bis zum Verbrechen. Moral scheint mir das Verbrechen an
sich am Leben... Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten,
die Philosophen und die alten Weiber — in diesem Punkte sind sie Alle einan-
der würdig. Der Mensch war bisher das ,moralische Wesen', eine Curiosität
ohne Gleichen — und, als ,moralisches Wesen', absurder, verlogner, eitler,
leichtfertiger, sich selber nachtheiliger als auch der größte Verächter
der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Moral — die bösartigste Form
des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: das, was sie ver-
dorben hat. Es ist nicht der Irrthum als Irrthum, was mir bei diesem
Anblick Entsetzen macht, nicht der jahrtausendelange Mangel an ,gutem Wil-
len', an Zucht, an Anstand, an Sauberkeit im Geistigen: es ist der Mangel an
Natur, es ist die schauderhafte Thatsächlichkeit, daß die Widernatur selbst
als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz über der Menschheit
hängen blieb!... In diesem Maaße sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht
als Volk oder Rasse, sondern als Menschheit — worauf weist das? — Daß man
die untersten Instinkte des Lebens verachten lehrt, daß man in der Vorausset-
zung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt,
daß man in der tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen des Lebens, in der
Selbstsucht — das Wort schon ist verleumderisch — das böse Princip sieht;
daß man in dem typischen Abzeichen des Niedergangs, der Instinkts-Wider-
sprüchlichkeit, im ,Selbstlosen', im Verlust an Schwergewicht, in der ,Entper-
sönlichung' und ,Nächstenliebe' grundsätzlich einen höheren Werth, was
sage ich! den Werth an sich sieht!... Wie? wäre die Menschheit selber in
decadence? War sie es immer?... Was fest steht, ist, daß ihr nur Decadence-
Werthe als oberste Werth(e) gelehrt worden sind, Die Entselbstungs-Moral
ist die Niedergangs-Moral per [sic?] excellence — sie verräth einen Willen zum
Ende sie verneint im untersten Grunde das Leben... Hier bliebe eine Mög-
lichkeit offen, daß nicht die Menschheit im Verfall ist, sondern nur eine parasi-
tische Art Mensch, welche sich zu ihren Werth-Bestimmern emporgelogen hat.
Und in der That, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer , die Religi-
ons der Menschheit waren insgesammt decadents — daher die Umwerthung
aller Werthe in Lebensfeindliche, daher die Moral!... Ecrasez l'infame!...
Definition der Moral. Moral — die Idiosynkrasie von decadents, mit der Hinter-
absicht, sich am Leben zu rächen. Ich lege Werth auf diese Definition. — Qui
chante son mal l'enchante: hat ein Provenzale gesagt. Dixi. Id quod feci. — /
23./ Hat man mich verstanden?... Die Entdeckung der Moral ist ein Ereigniß,
 
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