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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0654
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Stellenkommentar EH Schicksal, KSA 6, S. 371-372 631

372, 27-32 Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence,
die Thatsache „ich gehe zu Grunde" in den Imperativ übersetzt: „ihr sollt alle
zu Grunde gehn" — und nicht nur in den Imperativ!... Diese einzige Moral, die
bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verräth einen Willen zum
Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben.] Für die drei Verben „ent-
selben", „entselbsten" und „entselbstigen" schlägt Grimm 1854-1971, 3, 620
die Umschreibung „auszer sich selbst bringen" vor. Es ist deutlich, dass im
assoziativen Horizont von N.s Kampfformel „Entselbstungs-Moral" auch die
Entleihung steht. Die Kampfformel suggeriert, dass derjenige, der dieser Moral
anhängt, sich auf grausame Weise langsam selbst umbringt. So hieß es in
einem Aufsatz von Paul Heyse über Leopardi's Weltanschauung in der von N.
gelesenen, deutschen Ausgabe von Giacomo Leopardis Werken: „Ein leeres,
zweck- und thatloses Selbst fühlt sich schon im Leben so unselig durch die
Inhaltslosigkeit seines Ich, daß der Schritt bis zur leiblichen Entselbstung, zur
Aufhebung des Lebens kürzer und leichter sein muß, als da, wo der Schmerz
noch immer [...] das Selbstgefühl aufregt" (Leopardi 1878, 2, 23).
„Entselbstung", noch ohne direkt an „Moral" gekoppelt zu werden, kam
im Umfeld von „Selbstgeisselung" und „Selbstopferung" in GM III 11, KSA 5,
363, 18 f. vor, mit Pascal als Gewährsmann in GM III 17, KSA 5, 379, 15, unter
„lauter Negationen" mit „Gott" und „Jenseits" in WA Epilog, KSA 6, 51, 5. In
AC 54 (KSA 6, 236, 29-33) bescheinigte N. dem „Gläubigen" pauschal eine
„Moral der Entselbstung" und verstand Glaube als „Entselbstung", d. h.
„Selbst-Entfremdung". Seinen eigenen Kampf gegen die „Entselbstungs-Moral"
sah N. mit Morgenröthe beginnen (EH M 2, KSA 6, 332, 2-4). Der Begriff der
Entselbstung, der als äußerste Verdichtung dessen erscheint, was das Christen-
tum fordert, ist freilich in der theologischen Literatur nicht häufig anzutreffen;
ursprünglich gehört er als Übersetzung von desappropriatio in den Bereich der
Mystik und bezeichnet das Aufgeben der Ichbezogenheit. Unter den Philoso-
phen des 19. Jahrhunderts hat sich vor allem Immanuel Hermann von Fichte
seiner bedient; für N. einschlägiger dürfte jedoch eine Stelle in Schopenhauers
Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 2, Ergänzungen zum 4. Buch, § 48) gewesen
sein, der aus einer zeitgenössischen theologischen Quelle zur Zölibatsfrage wie
folgt zitierte: „,Wenn gleich sowohl Paulus das Eheverbot als Irrlehre bezeich-
net und der noch jüdischere Verfasser des Hebräerbriefes gebietet, >die Ehe
solle in Ehren gehalten werden bei Allen und das Ehebett unbefleckt< (Hebr.
13, 4); so ist darum doch die Hauptrichtung dieser beiden Hagiographen nicht
zu verkennen. Die Jungfräulichkeit war Beiden das Vollkommene, die Ehe nur
ein Nothbedarf für die Schwächeren, und nur als solcher unverletzt zu halten.
Das höchste Streben dagegen war auf völlige, materielle Entselbstung gerich-
tet. Das Selbst soll sich von Allem abwenden und enthalten, was nur ihm
 
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