Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0717
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
694 Dionysos-Dithyramben

Nothwendigkeit.] N. macht in seinen Schriften von 1888/89 einen inflationären
Gebrauch von Ausdrücken aus dem Wortfeld notwendig / Notwendigkeit. Dies
hängt auch zusammen mit der wiederholten Lektüre des Aufsatzes Die Arten
der Nothwendigkeit von Otto Liebmann (Liebmann 1882, 1-45, Lesespuren N.s,
vgl. NPB 356).
405, 4 Schild der Nothwendigkeit!] Die Wendung ist zu N.s Zeiten durchaus
schon geläufig, und zwar gerade zur rhetorischen Untermauerung politischer
Argumente, die mit diesem „Schild" gegen jeden Widerspruch immunisiert
werden sollen. So kolportiert ausgerechnet der von N. angefeindete Heinrich
von Treitschke (vgl. z. B. NK KSA 6, 358, 33-359, 3) eine Äußerung Friedrich
Christoph Dahlmanns im Zusammenhang mit der sogenannten Österreich-
Frage: „Im Verfassungsausschuss [der Frankfurter Nationalversammlung 1848/
49] entwarfen Dahlmann und Droysen die beiden Paragraphen, welche
bestimmten, daß kein deutscher Staat mit nicht-deutschen anders als durch
Personalunion verbunden sein dürfe. ,Der Schild der Nothwendigkeit, sprach
Dahlmann, deckt diese Sätze; streichen wir sie, so müssen wir zu jedem Para-
graphen hinzufügen: das soll für Oesterreich nicht gelten oder: die Einheit
Deutschlands soll nicht zu Stande kommen. Diese Frage steht über allen Par-
teien, es ist die Frage unserer Zukunft."' (Treitschke 1865b, 435) N. fügt die
längst zur politischen Leerformel herabgesunkene Wendung „Schild der Noth-
wendigkeit" nun in einen hochpathetischen Kontext ein — offenbar soll die
Sonnenscheibe dieser „Schild" sein, um sie damit gleichsam zu resakralisie-
ren.
405, llf. Meine Liebe entzündet / sich ewig nur an der Nothwendigkeit.] Dafür
prägte N. seinen Begriff des „amor fati", siehe z. B. NK KSA 6, 297, 24 f.
405, 19 denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! -] Mit diesem Satz endet
auch Za III Die sieben Siegel 1: „Nie noch fand ich das Weib, von dem ich
Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh
Ewigkeit! / Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (KSA 4, 288, 17-20).

Von der Armuth des Reichsten.
Auch dieser letzte Dithyrambus geht wie die beiden vorhergehenden von der
Klage des vereinsamten Ichs aus, das weder den „Thau der Liebe" (406, 4)
noch den Ruhm der Anerkennung erfahren hat. Autobiographisch bezeugen
mehrere Briefe an Overbeck diese schmerzlichen Erfahrungen, vgl. NK 400,
24-401, 2. Schon der Titel formuliert programmatisch die Paradoxie, welche
den gedanklichen Duktus des ganzen Dithyrambus bestimmt: die „Armut" des-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften