Stellenkommentar DD Armut, KSA 6, S. 405-406 695
jenigen, der gerade, weil er so „reich", ja „überreich" ist, keine Liebe und
Anerkennung erfährt. N. dürfte sich an Platons berühmtesten und wirkungs-
reichsten Text erinnert haben: an das Symposion, in dem Eros das Kind von
Poros und Penia: von Reichtum (Fülle) und Armut (Bedürfnis) ist. Wie schon
in mehreren früheren Dithyramben transponiert sich das Ich in seine Projekti-
onsfigur Zarathustra. Das im ersten Dithyrambus: Nur Narr! Nur Dichter! ange-
schlagene Thema der „Wahrheit" kehrt hier ringkompositorisch wieder; nun
ist es aber nicht mehr die „Wahrheit", von der sich das Ich, weil es „nur Narr,
nur Dichter" ist, grundsätzlich „verbannt" (380, 19) sieht, sondern eine
Wahrheit, zu deren Verkündigung sich das Ich ermächtigt, weil es die am
„Baum" der eigenen „Weisheit" als Frucht gereifte Wahrheit ist. Deshalb sagt
das Ich pointierend: „Meine Wahrheit ists" (408, 15). Zur Interpretation siehe
auch Kjaer 1996 und Greaney 2001.
Der Dithyrambus Von der Armuth des Reichsten — dort im Titel die „Armut"
noch ohne archaisierendes „h" — bildete zunächst den Schluss von Nietzsche
contra Wagner (vgl. N.s Brief an Köselitz vom 16. 12. 1888, KSB 8, Nr. 1192,
S. 527, Z. 38-42). Am 02. 01. 1889 verlangte N. von seinem Verleger Naumann
jedoch die Rücksendung des Gedichtmanuskriptes und wollte die Publikation
von Nietzsche contra Wagner insgesamt sistieren. Dennoch wird das Gedicht
im 1889 veranstalteten Privatdruck dieses Werkes mit abgedruckt; ebenso
erscheint es am Ende von NW in der Ausgabe von Colli und Montinari (KSA 6,
441-445).
406, 1 Von der Armuth des Reichsten.] In einer Vorstufe hieß es stattdessen
lapidarer: „Zarathustra melkt die Kühe" (KSA 14, 517). Zum Titel des Dithyram-
bus Von der Armuth des Reichsten siehe auch Sprüche Salomonis 13, 7 und
Matthäus 5, 3.
In NL 1883, KSA 10, 17[39], 551 hatte sich N. für ein Za-Kapitel notiert: „den
Armen reich machen Emerson p. 383". In der von N. benutzten Fabricius-
Übersetzung der Versuche von Ralph Waldo Emerson lautet der fragliche Pas-
sus: „Alles, was Mode und Höflichkeit genannt wird, demüthigt sich vor der
Ursache und der Quelle der Ehrerbietung, vor dem, was Titel und Würden
geschaffen hat, nämlich vor dem großen Herzen voll Liebe. Dies ist das königli-
che Blut, dies das Feuer, welches in allen Ländern und bei allen Möglichkeits-
fällen nach seiner eignen Art thätig ist, und Alles was sich ihm naht besiegt
und aufthut. Dies giebt jeder Thatsache eine neue Bedeutung. Dies macht die
Reichen arm, die keine andere Größe als ihre eigne dulden wollen. Was ist
reich? Bist du reich genug, um irgend Jemand zu helfen? [...] Ohne das reiche
Herz ist der Reichthum nur ein häßlicher Bettler. Dem König von Schiras wollte
es nicht gelingen, eben so freigebig zu sein, wie der arme Osman, der am Thor
seines Palastes weilte. Osman besaß eine so umfassende und innige Menschen-
jenigen, der gerade, weil er so „reich", ja „überreich" ist, keine Liebe und
Anerkennung erfährt. N. dürfte sich an Platons berühmtesten und wirkungs-
reichsten Text erinnert haben: an das Symposion, in dem Eros das Kind von
Poros und Penia: von Reichtum (Fülle) und Armut (Bedürfnis) ist. Wie schon
in mehreren früheren Dithyramben transponiert sich das Ich in seine Projekti-
onsfigur Zarathustra. Das im ersten Dithyrambus: Nur Narr! Nur Dichter! ange-
schlagene Thema der „Wahrheit" kehrt hier ringkompositorisch wieder; nun
ist es aber nicht mehr die „Wahrheit", von der sich das Ich, weil es „nur Narr,
nur Dichter" ist, grundsätzlich „verbannt" (380, 19) sieht, sondern eine
Wahrheit, zu deren Verkündigung sich das Ich ermächtigt, weil es die am
„Baum" der eigenen „Weisheit" als Frucht gereifte Wahrheit ist. Deshalb sagt
das Ich pointierend: „Meine Wahrheit ists" (408, 15). Zur Interpretation siehe
auch Kjaer 1996 und Greaney 2001.
Der Dithyrambus Von der Armuth des Reichsten — dort im Titel die „Armut"
noch ohne archaisierendes „h" — bildete zunächst den Schluss von Nietzsche
contra Wagner (vgl. N.s Brief an Köselitz vom 16. 12. 1888, KSB 8, Nr. 1192,
S. 527, Z. 38-42). Am 02. 01. 1889 verlangte N. von seinem Verleger Naumann
jedoch die Rücksendung des Gedichtmanuskriptes und wollte die Publikation
von Nietzsche contra Wagner insgesamt sistieren. Dennoch wird das Gedicht
im 1889 veranstalteten Privatdruck dieses Werkes mit abgedruckt; ebenso
erscheint es am Ende von NW in der Ausgabe von Colli und Montinari (KSA 6,
441-445).
406, 1 Von der Armuth des Reichsten.] In einer Vorstufe hieß es stattdessen
lapidarer: „Zarathustra melkt die Kühe" (KSA 14, 517). Zum Titel des Dithyram-
bus Von der Armuth des Reichsten siehe auch Sprüche Salomonis 13, 7 und
Matthäus 5, 3.
In NL 1883, KSA 10, 17[39], 551 hatte sich N. für ein Za-Kapitel notiert: „den
Armen reich machen Emerson p. 383". In der von N. benutzten Fabricius-
Übersetzung der Versuche von Ralph Waldo Emerson lautet der fragliche Pas-
sus: „Alles, was Mode und Höflichkeit genannt wird, demüthigt sich vor der
Ursache und der Quelle der Ehrerbietung, vor dem, was Titel und Würden
geschaffen hat, nämlich vor dem großen Herzen voll Liebe. Dies ist das königli-
che Blut, dies das Feuer, welches in allen Ländern und bei allen Möglichkeits-
fällen nach seiner eignen Art thätig ist, und Alles was sich ihm naht besiegt
und aufthut. Dies giebt jeder Thatsache eine neue Bedeutung. Dies macht die
Reichen arm, die keine andere Größe als ihre eigne dulden wollen. Was ist
reich? Bist du reich genug, um irgend Jemand zu helfen? [...] Ohne das reiche
Herz ist der Reichthum nur ein häßlicher Bettler. Dem König von Schiras wollte
es nicht gelingen, eben so freigebig zu sein, wie der arme Osman, der am Thor
seines Palastes weilte. Osman besaß eine so umfassende und innige Menschen-