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Mayer, Adolf; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1927, 6. Abhandlung): Naturwissenschaftliche Ästhetik — Berlin, Leipzig, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.43533#0010
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Adolf Mayer:

15. Verwandt mit diesem Gegenstände ist auch die Frage nach der
Tendenz in der Kunst, die namentlich von dem verstorbenen Tü-
binger Ästhetiker Konr. Lange so vielfach behandelt wurde. Tendenz
in der Kunst ist ein Greuel, sagen die einen und zumeist die Künstler
selber. Dem widerspricht aber die unerschütterlich feststehende Tat-
sache, daß gerade allergrößeste Kunstwerke ausgesprochene Tendenz-
werke sind. Der Sonnengesang des heiligen Franz, wenigstens in
seiner modernen Erweiterung von Lehrs, ist vielleicht das schönste
lyrische Gedicht der gesamten Weltliteratur und hat eine ausgesprochene
monotheistische Tendenz. Dasselbe gilt von der göttlichen Komödie.
Die ergreifendste Tragödie Shakespeares: König Lear hat die
Tendenz, auf die Folgen des Zorns zu weisen, wie der Othello auf die
der Eifersucht, ist also moralisch eingestellt. Dasselbe gilt vom Faust
und von sämtlichen Schiller sch en Dramen. Lange sucht um das alles
sein Tüchlein zu wickeln, aber er ist nicht naturwissenschaftlich in seiner
Auffassung, obwohl sein Streben dahin geht.
Naturwissenschaftlich liegt die Sache so, daß alle Kunst Tendenz
haben muß, das liegt in dem Begriffe des Schaffens einer schöneren
Welt, aber ebenso, daß diese Wahrheit dem Kunstgenießenden verhüllt
werden muß und auch den Künstlern, die nicht zugleich tiefe Denker
sind, besser verhüllt bleibt; denn, „man merkt die Absicht und man ist
verstimmt“, sagt der große Dichter, der auch ein großer Denker war,
und „man hat die Absicht und verfehlt das Zieh‘könnte man für die
Bloß-Künstler hinzusetzen; denn es nimmt ihnen die Unbefangenheit.
Kunst ohne Tendenz würde schließlich so langweilig werden wie
ein Feuerwerk, wozu die ganz modernen, bloß Farbenprächtigen ja
schon den Beweis geliefert haben. Die Kritiker aber, die am meisten
gegen Tendenz schreien, meinen im Grunde nur die Tendenz, die ihnen
unbequem ist, nicht selten selbst, weil sie an ihr Gewissen rührt. Auch
sie aber haben die Tendenz, keine Tendenz zu haben, wenigstens keine
moralische.
Dies alles näher ausgeführt in Konr. Langes Kunsttheorie in
Oase 1911, S. 44 und die Alpen 1913, 7, S. 718. Schließlich mag hin-
sichtlich der Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft auf meinen
Aufsatz: Göthe und Helmholtz i. d. Preuß. Jahrb. 1908, 133, S. 191
hingewiesen werden.
16. Neben der für andere als den Künstler selbst bestimmten Kunst
gibt es dann noch eine Selbkunst, worauf i. d. Preuß. Jahr. 1920, 182,
S. 321 hingewiesen wird.
 
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