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Bettmann, Siegfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1930, 8. Abhandlung): Über Modellierungen des Gefäßendabschnittes, 1: Die Beziehung der Kapillarformen der Lippe zur Physiognomie — Berlin, Leipzig, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.43607#0021
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Über Modellierungen des Gefäßendabschnittes.

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entwächst und sich mehr dem ‘schwäbischen’ Typus nähert.“
Aber wir haben auch zu betonen, daß diese Wandlung keine reine
Harmonie bedeutet, sondern mit einer verringerten Leistungsfähig-
keit und verminderten funktionellen Belastbarkeit einhergeht.
II. Virchow hebt hervor: „Die Form des ruhenden Mundes
ist ein Produkt zweier Faktoren, umgebender Einflüsse, insbe-
sondere des Kiefers und des Zahnbogens, auf dem die Lippen auf-
ruhen, und der Eigenhaltung der Lippen. Hieraus ergeben sich
wichtige und mannigfaltige Unterschiede. Die Greisenlippen sind
mehr passiv über die Unterlage gespannt und ihre Mundspalte
verbreitert, die jugendlichen Lippen haben mehr Eigenwillen.“
Schiller hat das bereits dahin formuliert, der Mund werde zur
bloßen Öffnung, denn seine Form sei nicht mehr Folge der wirkenden,
sondern der nachlassenden Kräfte.
Ein besonderer Faktor in der Altersphysiognomie ist die Re-
duktion des Gebisses. Es läßt sich gerade am Altersbild der Lippen-
kapillaren die Beziehung zur physiognomischen Beeinflussung, die
vom Zustande der Zähne oder ihrem Fehlen ausgeht, aufs schönste
verfolgen. Zugleich aber werden wir auch hier darauf aufmerksam,
daß keine allzuenge, gradlinig einfache Stärkenbeziehung besteht,
sondern daß sich die Gebißdefekte auswirken wohl in Beziehung
zum Alter, aber auch zu einer Fülle individuell-dispositioneller,
modifizierender Voraussetzungen. Im Unterschiede zwischen der
Auswirkung desselben Traumas in verschiedenem Alter und bei
verschiedenen Menschen gleichen Alters erblicken wir die Spiegelung
der verschiedenen Reaktionsweisen und der verschiedenen An-
passungsfähigkeit ö.
Jedenfalls kommt es für die Auswirkungen des Gebißverlustes
ebenso auf zeitliche Entwicklungen wie auf das Individuum an, wie
auf Korrektionsmöglichkeiten. Unsere Schlußfolgerungen wurden
ergänzt und bestätigt durch Untersuchungen an jüngeren Men-
schen mit Defekten des Gebisses. Das Fehlen der Zähne wird zu
einem Faktor der lokalen Vergreisung, aber nicht zum domi-
nierenden Faktor.
Schon damit rühren wir an das Gebiet der Orthodontie. Es
gibt eine orthodontische Physiognomik, als deren Aufgabe es Kan-
torowicz bezeichnet, zu untersuchen, inwieweit Gesichtszügen, die

x) Bettmann, Über Altersveränderungen am Gefäßendabschnitt der Lippen-
schleimhaut. Zeitschr. f. d. ges. Anat. (im Druck).
 
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