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Weizsäcker, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1934, 4. Abhandlung): Wege psychophysischer Forschung: Festrede bei der Stiftungsfeier der Akademie am 3. Juni 1934 — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.43676#0003
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Wege psychophysischer Forschung
von
Viktor v. Weizsäcker
Was man in der modernen Wissenschaft psychophysische
Forschung nannte, ist etwas ungemein Eingeschränktes. Während
die alten Lehren des indischen und chinesischen Yoga, der grie-
chischen Philosophie umfassende Systeme seelischer Organbedeu-
tung für Herz und Niere, Leber und Lunge besitzen, wagt sich
die kritische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an wenig mehr
als eine so arme psychische Qualität, wie die Empfindung. Die
Sinnesphysiologie Joh. Müller’s und die Psychophysik G. Th.
Fechner’s sind die schmale Brücke, auf der sich das naturwissen-
schaftliche Leib-Seele-Problem, gefährdet genug, hinüberrettet über
eine Epoche, die am liebsten das Seelische ganz verschwiegen
hätte. Wer es wie Gall wagte, wenigstens die Regionen der
Hirnrinde für die Hauptkräfte der Seele und des Charakters
zu beanspruchen, war bald als Charlatan entlarvt und von den
übrigen Organen, denen man eine erstaunliche Autonomie über-
ließ, war fortab nicht die Rede. Seele und Bewußtsein wurde
gleichgesetzt. Und während die Metaphysik Asiens kein Wissen
kennt, welches nicht durch Umschaffung des Leibes allein sich
bewähren ließe, schien der idealistischen Philosophie solche Kraft
entschwunden; sie wurde leiblos, wie die Lehren vom Leib Lehren
von entseelten Organen und Funktionen waren.
Es ist also eine doppelte Einschränkung, wenn von der Fülle
des Seelischen fast nur Empfindung und Wahrnehmung, von der
Ganzheit des Organismus fast nur die Hirnrinde als Thema der
Psychophysiologie gewürdigt wurde. Dabei ging man in Gedanken
beinahe stets vom Leib zur Seele, nicht umgekehrt. Ein Reiz traf
das Organ, eine nervöse Erregung und zuletzt eine Empfindung
war die Folge. Grundlegende Funde, wie die Helmholtz’schen
Gesetze der Farbenmischung waren das Ergebnis. Doch fast nie
fragte man, nach welchen Regeln auf die Regung des Wollens
die Bewegung der Glieder und die Gestaltung der Umwelt folge.
 
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