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Weizsäcker, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1934, 4. Abhandlung): Wege psychophysischer Forschung: Festrede bei der Stiftungsfeier der Akademie am 3. Juni 1934 — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.43676#0011
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Wege psychophysicher Forschung

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beunruhigt. Gerade die Physiologie hat sich merkwürdig ablehnend
gegen ein Prinzip der Polarität verhalten, das nicht einmal der
Physik und Mathematik je entgangen war. Es hat Jahrzehnte der
Arbeit und auch des Kampfes bedurft, um eine Angst vor der
enantiotropen Struktur, vor der Anti-Mathematik des Herzens in
der Biologie zu überwinden. Man fürchtete sich vor dem Drama
der Gefühle und nannte seine Furcht Ablehnung des Subjektivis-
mus, der Spekulation oder der Naturphilosophie. Man übersah,
daß die Wirklichkeit hier nicht etwa unvollständig, sondern falsch
beschrieben wurde, wenn man sie elementar-analytisch oder
mechanistisch darzustellen versuchte. Ich halte es aber für die
bedeutendste Einsicht der Medizin seit ihrem anatomisch-physio-
logischen Höhepunkte, daß sie, deren vollen Gewinn festhaltend,
nun die Erkenntnis hinzufügt, daß der Wandel der physiologi-
schen Funktionen, den wir dann Symptom nennen, aus dem
Schosse erlebter Selbstentzweiung der Person hervorgeht. Das
mit seinem Selbst entzweite Ich, unvermögend, seine Bestimmung
zu vollziehen, schränkt seine Leistungen ein, um nun allein noch
die psychophysische Arbeit zu leisten, welche wir den krankhaften
Prozeß nennen. Diese Krankheitsarbeit also ist es, welche wir
nur als psychophysische angemessen erfassen können.
So waren es zuerst die Szenen, welche dem Arzte vor das
Auge kommen, die man nur hingebend anzuhören und schlicht
zu beschreiben brauchte, um die großartige Bedeutung der Psy-
chogenese mehr und mehr wieder zu erfassen. Schon längst war
bekannt, wie Herzschlag, Blutdruck, Atmung, aber auch Sekretion
der großen Drüsen, Bewegung der Verdauungsorgane, Stoffwechsel
mit seelischen und besonders Gefühlserlebnissen innig Zusammen-
gehen. Was man autonomes Nervensystem genannt hatte, das
hatte sich erst recht in engster Abhängigkeit von psychischer Be-
wegung erwiesen. Selbst Organe wie Niere, Pankreas konnten
durch hypnotische Suggestion beeinflußt werden.
Aber die große Schwierigkeit blieb: wie schon bei den Sinnes-
empfingungen, so erst recht hier wollte es bisher nicht gelingen,
einen spezifischen Parallelismus psychischer und physischer Ge-
gebenheiten gesetzmäßiger und elementarer Art zu statuieren. Je
exakter und experimenteller man arbeitete, umso unsicherer,
komplizierter erschien das Gebiet. Die novellistische Beschreibung
kam der Wahrheit näher als die exakteste Messung. Ein naiveres
Auge, ein unbefangeneres Ohr erfuhr die wesentlichsten Zusammen-
hänge besser, und sie lauteten folgendermaßen:
 
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