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Bieberbach, Ludwig; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1940, 5. Abhandlung): Die völkische Verwurzelung der Wissenschaft (Typen mathematischen Schaffens) — Heidelberg, 1940

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https://doi.org/10.11588/diglit.43997#0004
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4

Ludwig Bieberbach:

liegt also doch der eigentümliche Fall vor, daß die Mathematik
zu den Sachen gehört, über die man überhaupt nur einer Mei-
nung sein kann. Aber wie geht das zu? Es sind doch Menschen,
ihrem Volkstum verhaftete Menschen, welche die Wissenschaft
betreiben, die die mathematischen Sätze aufstellen und beweisen.
Welch verschiedene Menschentypen gibt es! Und trotzdem soll
der Inhalt dessen, was einem Mathematiker an Ideen und Ergeb-
nissen einfällt, soll die Art wie er vorgeht, sollen seine Methoden,
seine Auffassung von Wert und Sinn seiner Wissenschaft, soll das
alles von der Struktur seines Denkens ganz unabhängig sein.
Das scheint schwer glaublich. Und in der Tat findet man auch bei
näherem Zusehen, daß große Mathematiker in ihren Auffassungen
über ihre Wissenschaft recht verschiedener Meinung sind. Felix
Klein, der wegen seiner stets aufs Gemeingut gerichteten Be-
strebungen weit über die Grenzen seines Faches hinaus bekannte,
vor 12 Jahren gestorbene große Göttinger Mathematiker, tritt,
wie er oft betont, für das Recht der Anschauung im Gebiete der
Mathematik ein. „Indem ich für das Recht der Anschauung im
Gebiete meiner Wissenschaft kämpfe, will ich die Bedeutung der
logischen Entwicklung keineswegs hintansetzen. Nur da findet
die Mathematik nach der Auffassung, die ich vertrete, ihre volle
Geltung, wo beide Seiten nebeneinander zur Entfaltung kommen“4).
Die Freude an der Gestalt ist es, welche den Geometer macht.
Dies hebt der Ostpreuße Clebsch in seinem Nachruf auf den
rheinischen Landsmann und Lehrer von Felix Klein, den Geo-
meter und Physiker Julius Plücker, hervor* 2).
Demgegenüber schildert der größte französische Mathematiker der
Neuzeit, Henri Poincare, eine ganz andere Auffassung mit den Wor-
ten: „Alles was nicht Gedanke ist, ist das reine Nichts ... Der Ge-
danke ist nur ein Blitz in einer langen Nacht. Aber dieser Blitz
ist alles“ 3 4). „Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit“,
sagt der Begründer der Mengenlehre, Georg Cantor4)- Der
p Jahresbericht der Deutschen Mathematikervereinigung Band 7, S. 128.
2) Vergl. Julius PlüCKEr’s Gesammelte mathematische Abhandlungen
S. XIII.
3) H. Poincare, Der Wert der Wissenschaft, Deutsche Ausgabe von
H. Weber, S. 209.
4) Georg Cantor, Gesammelte mathematische Abhandlungen, S. 182.
E. T. Bell, Men of mathematics, London 1937, S. 617 nennt Cantor „of
pure Jewish descent on both sides“. Worauf sich die Angabe stützt, wird
nicht angegeben. A. Fraenkel (Jahresbericht des D. M. V., Bd. 39 (1930),
 
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