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Bieberbach, Ludwig; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1940, 5. Abhandlung): Die völkische Verwurzelung der Wissenschaft (Typen mathematischen Schaffens) — Heidelberg, 1940

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https://doi.org/10.11588/diglit.43997#0005
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Völkische Verwurzelung der Wissenschaft
englische Logistiker Russell treibt diese Ansicht auf die Spitze,
wenn er erklärt: „Die Mathematik ist die Wissenschaft, bei der
man nicht weiß, wovon man redet, noch ob richtig ist, was man
sagt“* * * * 5). Welch ein Gegensatz ist doch zwischen solchen Be-
hauptungen und der folgenden Feststellung von Gauss: „Hier ist
also“, sagt Gauss gelegentlich im Hinblick auf die komplexen
Zahlen, „die Nachweisbarkeit einer anschaulichen Bedeutung von
Wurzel aus minus eins gerechtfertigt, und mehr bedarf es nicht,
um diese Größe in das Gebiet der Gegenstände der Arithmetik
zuzulassen“ 6). Hören wir dazu noch ein Wort des größten leben-
den Deutschen Mathematikers, des Ostpreußen David Hilbert:
„Auch heute kommt dem anschaulichen Erfassen in der Geo-
metrie eine hervorragende Rolle zu, und zwar nicht nur als einer
überlegenen Kraft des Forschens, sondern auch für die Auffindung
und Würdigung der Forschungsergebnisse“ 7).
Wir kennen nun die beiden Pole, zwischen denen die Wissen-
schaftsideale der Mathematiker schwanken. Sie sind aus den ge-
rade aufgeführten Äußerungen zu ersehen. Wir haben das Über-
gewicht des inhaltlich anschaulichen am einen Ende, die aus-
schließliche Wertung des abstrakt gedanklichen am anderen Ende
der Reihe der Wissenschaftsideale. Wer hat recht? Wer hat das
wahre Ideal aufgepflanzt?
Vielleicht trifft Henri Poincare das Richtige, wenn er den
Grund für diese Verschiedenheiten, über die er viel nachgedacht
und viel geschrieben hat, darin findet, daß es verschiedene
geistige Veranlagungen gibt, welche die Menschen dazu bringen,
über den gleichen Sachverhalt verschieden zu denken, verschieden
zu urteilen8). Vielleicht haben andere recht, die diese Abwei-
chungen für unerheblich halten, nicht wichtiger für die Wissen-
S. 192 spricht nur von der Religionszugehörigkeit der CANTOR’schen Eltern
und hebt hervor, daß der Vater mindestens schon 1845 den evangelisch¬
lutherischen Glauben bekannte, während die Mutter katholischer Religion
war. Diese Angaben stützen sich auf urkundliche Belege.
5) Thus mathematics may be defined as the subject in which we never
know what we are talking about nor wether what we are saying is true.
The international Monthly vol. 4 (1901), S. 84.
6) C. F. Gauss Werke Band II, S. 177.
7) Anschauliche Geometrie, S. V. Das Vorwort dieser von dem Juden
Cohn-Vossen bearbeiteten HlLBERT’schen Vorlesungen ist von Hilbert
allein unterzeichnet.
8) Vergl. H. Poincare, Letzte Gedanken, Deutsche Ausgabe von W.
Ostwald, S. 164.
 
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