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Bieberbach, Ludwig; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1940, 5. Abhandlung): Die völkische Verwurzelung der Wissenschaft (Typen mathematischen Schaffens) — Heidelberg, 1940

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https://doi.org/10.11588/diglit.43997#0007
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Völkische Verwurzelung der Wissenschaft
Schiller und Goethe fühlt jeder einen tiefen Unterschied; Mö-
rike und Rilke, wer würde diese beiden deutschen Dichter
verwechseln? Und so ist es auch bei den Mathematikern. Die
behagliche Redseligkeit eines Euler und die knappe, jedes Wort
wägende, jeden Gedanken feilende Art von Gauss erscheint
jedem Kenner als ein nie zu übersehender Unterschied in der
Schreibweise, in der Arbeitsweise und vor allem in der Denk-
weise beider. Die von Bild zu Bild eilende, die Zusammenhänge
aufsuchende, sie herausstellende, die Dinge erhellende Art Klein’s
und die systematische, behäbige, nach letzter Strenge, nach Ab-
geschlossenheit strebende und um Bildlosigkeit ringende Art von
Weierstrass ließen beide Männer, als sie noch in dem Verhält-
nis von Schüler und Lehrer standen, nie zueinander finden, so
daß keiner wußte, was ihm der andere geben konnte.
Ja bis zum Unbehagen kann sich das Bewußtsein des Fremd-
artigen steigern, wie uns Poincare berichtet, wenn er seinen an
den großen französischen Meistern orientierten und ihnen wesens-
verwandten Volksgenossen die Art des englischen Physikers
Maxwell nahe zu bringen sucht. „Wenn ein französischer Leser
das Buch von Maxwell zum ersten Male öffnet, so mischt sich
ein Gefühl des Unbehagens, oft sogar des Mißtrauens in seine
Bewunderung“ 9).
Das Gesagte läßt schon mit einiger Klarheit erkennen, daß
es wohl kein Zufall ist, sondern der Veranlagung zuzuschreiben
ist, wenn die Mathematiker sich in ihrem Verhältnis zu ihrer
Wissenschaft so verschieden zeigen. Die moderne Psychologie
liefert noch einen direkten Beweis für den Zusammenhang der
allgemeinen Persönlichkeitsstruktur mit der Artung der mathe-
matischen Tätigkeit. Ich meine die Untersuchungen des Marburger
Psychologen Jaensch, auf die ich noch zurückkomme. Jedenfalls
läßt das Material an Versuchspersonen, das er in einer kürzlich
erschienenen Schrift10) vor uns ausbreitet, klar erkennen, wie
verschiedenartig das Verhalten der Schüler und Studenten ist,
auf die sich seine Untersuchungen erstreckten.
Nachdem nun kein Zweifel mehr besteht, daß die Art der
mathematischen Betätigung mit der Struktur der schaffenden Per-
9) H. Poincare, Wissenschaft und Hypothese, Deutsche Ausgabe von
F. und L. Lindemann, S. 213ff.
10) E. R. Jaensch-F. Althoff, Mathematisches Denken und Seelenform.
Leipzig 1939.
 
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