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Ludwig Bieberbach:
hervor, der Wille, über die Dinge durch seinen Verstand zu
herrschen, andere zu seiner Ansicht zu zwingen. Gewiß geht
gerade bei Kepler die Rechnung nicht glatt auf. Man wird keine
Mühe haben, bei ihm auch Züge zu finden, die für Jx kennzeich-
nend sind. Seiner Art wird man aber nicht gerecht, wenn man
sie allein aus der Freude an der bunten Fülle der Natur, aus
einer bloß anschauenden Betrachtung der Dinge erklären will.
In einem seiner Briefe sagt Kepler: „Unser Bildner hat zu den
Sinnen den Geist gefügt, nicht bloß, damit sich der Mensch seinen
Lebensunterhalt erwerbe — das können viele Arten von Lebe-
wesen mit ihrer unvernünftigen Seele viel geschickter — sondern
auch dazu, daß wir vom Sein der Dinge, die wir mit Augen be-
trachten, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen,
wenn auch weiter kein Nutzen damit verbunden ist.“ Und: „Wir
sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der
Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt heran-
getreten ist und jegliches so ausgemessen hat, daß man meinen
könnte, nicht die Kunst nähme sich die Natur zum Vorbild, son-
dern Gott selbst habe bei der Schöpfung auf die Bauweise der
kommenden Menschen geschaut“24). Und in der Stereometrie der
Fässer heißt es: „Wer wollte in Abrede stellen, daß die Natur
mit Hilfe eines dunklen Gefühls auch ohne Vernunftschlüsse die
Menschen Geometrie lehrt, da die Böttcher nur nach dem Augen-
maß und aus Schönheitsrücksichten in der Faßhälfte die größt-
mögliche Figur herzustellen gelernt haben? Es trete ein Geometer
auf und lehre eine leichtere Methode, ein Faß zu konstruieren,
das in seiner Hälfte dem Zylinder vom größten Inhalt näher
kommt, als es diejenige ist, die die österreichischen Binder von
altersher anwenden“ 25). Also auch hier wieder der Glaube an
eine harmonische Ordnung, die zu ergründen dem Menschen auf-
gegeben ist. Und nach diesem harmonischen Bild gestaltet sich
sein Werk. Ähnlich strebt auch Gauss in seiner Arbeit nach
einem harmonischen Bild des Gegebenen. Gewiß, beide sind nicht
identisch in ihrem Wesen. In jedem schwingt etwas mit, das dem
anderen nicht gehört. Aber für jeden ist ein aus dem Inneren
kommendes „Sollen“ Richtschnur des Strebens, ein Sollen, das
sich bei Kepler vielleicht mehr als bei Gauss dem Müssen und
24) Johannes Keppler in seinen Briefen, München 1930, Band I, S. 33
und S. 34.
25) Ostwald’s Klassiker Nr. 165, S. 61.
Ludwig Bieberbach:
hervor, der Wille, über die Dinge durch seinen Verstand zu
herrschen, andere zu seiner Ansicht zu zwingen. Gewiß geht
gerade bei Kepler die Rechnung nicht glatt auf. Man wird keine
Mühe haben, bei ihm auch Züge zu finden, die für Jx kennzeich-
nend sind. Seiner Art wird man aber nicht gerecht, wenn man
sie allein aus der Freude an der bunten Fülle der Natur, aus
einer bloß anschauenden Betrachtung der Dinge erklären will.
In einem seiner Briefe sagt Kepler: „Unser Bildner hat zu den
Sinnen den Geist gefügt, nicht bloß, damit sich der Mensch seinen
Lebensunterhalt erwerbe — das können viele Arten von Lebe-
wesen mit ihrer unvernünftigen Seele viel geschickter — sondern
auch dazu, daß wir vom Sein der Dinge, die wir mit Augen be-
trachten, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen,
wenn auch weiter kein Nutzen damit verbunden ist.“ Und: „Wir
sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der
Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt heran-
getreten ist und jegliches so ausgemessen hat, daß man meinen
könnte, nicht die Kunst nähme sich die Natur zum Vorbild, son-
dern Gott selbst habe bei der Schöpfung auf die Bauweise der
kommenden Menschen geschaut“24). Und in der Stereometrie der
Fässer heißt es: „Wer wollte in Abrede stellen, daß die Natur
mit Hilfe eines dunklen Gefühls auch ohne Vernunftschlüsse die
Menschen Geometrie lehrt, da die Böttcher nur nach dem Augen-
maß und aus Schönheitsrücksichten in der Faßhälfte die größt-
mögliche Figur herzustellen gelernt haben? Es trete ein Geometer
auf und lehre eine leichtere Methode, ein Faß zu konstruieren,
das in seiner Hälfte dem Zylinder vom größten Inhalt näher
kommt, als es diejenige ist, die die österreichischen Binder von
altersher anwenden“ 25). Also auch hier wieder der Glaube an
eine harmonische Ordnung, die zu ergründen dem Menschen auf-
gegeben ist. Und nach diesem harmonischen Bild gestaltet sich
sein Werk. Ähnlich strebt auch Gauss in seiner Arbeit nach
einem harmonischen Bild des Gegebenen. Gewiß, beide sind nicht
identisch in ihrem Wesen. In jedem schwingt etwas mit, das dem
anderen nicht gehört. Aber für jeden ist ein aus dem Inneren
kommendes „Sollen“ Richtschnur des Strebens, ein Sollen, das
sich bei Kepler vielleicht mehr als bei Gauss dem Müssen und
24) Johannes Keppler in seinen Briefen, München 1930, Band I, S. 33
und S. 34.
25) Ostwald’s Klassiker Nr. 165, S. 61.