Metadaten

Bieberbach, Ludwig; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1940, 5. Abhandlung): Die völkische Verwurzelung der Wissenschaft (Typen mathematischen Schaffens) — Heidelberg, 1940

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43997#0023
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Völkische Verwurzelung der Wissenschaft

23

zu ihrer folgerichtigen Erörterung algebraischer Methoden sich
bedienen, seien dazu da, der Algebra als Übungsfeld zu dienen,
so kehrt man den wahren und natürlichen Sach verhalt um, indem
man die Lehre von den formalen Rechenoperationen in aller All-
gemeinheit zu einem Selbstzweck, ja zu einem beherrschenden
Etwas erhöht, statt sich der dienenden Rolle bewußt zu bleiben,
zu der die formalen Rechenoperationen erschaffen wurden. Der
J3-Typus, so formuliert das gelegentlich Jaensch, baut von unten
nach oben, das Gegebene ist der Grund, auf dem sich das Ge-
dankliche emporhebt. Der S-Typus dagegen baut von oben nach
unten. Das ist ein Verfahren, dessen Möglichkeit dem gesunden
Empfinden zunächst nicht einleuchtet und das uns daher, wo es
rein auftritt und wo es anklingt, immer besonders fremdartig
an mutet.
Treffend wird dieser Typus durch den schon erwähnten Aus-
spruch von Cantor gekennzeichnet, wonach das Wesen der
Mathematik in ihrer Freiheit liegt. Kennzeichnend für die einzelnen
Typen scheint mir die Stellung zu der von Cantor begründeten
Mengenlehre zu sein; die einen meinen, daß wir alle auf der
von Cantor geschaffenen Grundlage denken, die anderen hegen
ihre Zweifel an der Haltbarkeit des Ganzen oder tragen die kühle
Zurückhaltung zur Schau, die Klein eigen war und der auch
Weierstrass, der andere Pol der J-Typen, nicht fern stand. Man
braucht sich nur daran zu erinnern, daß keiner der für die reelle
Analysis wichtigen Sätze der Punktmengenlehre nach Cantor hat
genannt werden können. Sie gehen auf Deutsche oder artver-
wandte Mathematiker zurück, denen ein strenger Aufbau des
historisch gewordenen Stoffes am Herzen lag. An der modernen
Entwicklung der Theorie der reellen Funktionen sind freilich
Deutsche Mathematiker so gut wie gar nicht beteiligt. Hier ist
ein Tummelfeld für S-Typen. Man wird auf einen natürlichen
angeborenen Instinkt und auf wissenschaftlichen Geschmack
stoßen, wenn man im einzelnen klar legt oder sich vergegen-
wärtigt, was aus diesem Gebiet auf die Deutsche Literatur über-
ging und was nicht, was bei uns anregend wirkte und was
abseits liegen blieb.
Wenden wir uns wieder den bei Deutschen vorherrschenden
Typen zu. Wir haben zur Kenntnis des J2-Typus schon eine Reihe
von Beispielen beigebracht; es liegt uns noch ob, für die beiden
anderen, den Jr- und den J3-Typ, weitere Erläuterungen zu geben.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften