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Koenigsberger, Leo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1913, 8. Abhandlung): Die Mathematik, eine Geistes- oder Naturwissenschaft?: Festrede — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.37350#0009
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Die Mathematik eine Geistes- oder Naturwissenschaft? (A. 8) 9
uns von der Natur verliehenen festen Denkformen an der Spitze
aller Wissenschaften steht, so darf die Mathematik, aufgebaut nur
auf den Anschauungen von Raum und Zeit mit der geringsten
Zahl von Axiomen, Postulaten und Hypothesen ihre Stelle als
oberste und einfachste aller Naturwissenschaften beanspruchen —-
aber sie bleibt der Logik untergeordnet; Windelband hat Recht,
wenn er sagt: ,,es gibt keine Mathematik der Logik, wohl aber
eine Logik der Mathematik.“
Die Logik als Wissenschaft kann uns jedoch neue Erkennt-
nisse nicht schaffen, da wir nur mit Hilfe unserer Vernunft die
apriorischen Normen des Denkens im synthetischen Aufbau zu
komplizierteren Denkgesetzen ausgestalten, aber mit unserem
Verstände nicht durch Abstraktion und Analyse die Natur der
Denkgesetze selbst ergründen können. Lind so tritt uns die nicht
ganz einfache Frage entgegen, ob uns denn die mathematische
Wissenschaft mit neuen Erkenntnissen bereichert oder ob uns der
Kalkül auch nur formale Umgestaltungen einfacher Wahrheiten
liefert, die wir in ein mathematisches Gewand gekleidet haben.
Wenn Ruffon mit seinem Ausspruche Recht hätte: ,,il n’v
a dans les mathematiques que ce que nous y avons mis“, dann
wäre die Mathematik so wenig wie die Logik eine Kulturwissen-
schaft in dem Sinne, daß ihre Fortentwicklung unseren Gesichts-
kreis erweitert für die großen Probleme einer philosophischen
Weltanschauung und für das lebendige Auffassen der mannig-
fachen und vielgestaltigen Rätsel, welche die Natur der mensch-
lichen Anschauung und Erkenntnis darbietet. In der Tat war
dies die Meinung Goethes, welcher, den mathematischen Abstrak-
tionen anschauungsloser Regriffe abhold, der Mathematik nur eine
formale Redeutung zuerkennen und ihr jede Refähigung ab-
sprechen wollte, ein tieferes Eindringen in die Gesetze der Natur
zu ermöglichen; „die Natur müsse ihre Geheimnisse selbst dar-
legen, da sie die durchsichtigste Darstellung ihres idealen In-
haltes sei.“
Von größerer Redeutung ist dagegen der Ausspruch des aus-
gezeichneten Mathematikers Poinsot in seinem Memoire: Sur
la theorie et determination de l’equateur du Systeme solaire:
„Der Kalkül ist ein Instrument, welches nichts durch sich
selbst hervorbringt und gewissermaßen nur die Gedanken wieder-
gibt, die man ihm anvertraut. Wenn wir nur unvollkommene
Regriffe besitzen oder wenn unser Geist eine Frage nur unter
 
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