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Koenigsberger, Leo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1913, 8. Abhandlung): Die Mathematik, eine Geistes- oder Naturwissenschaft?: Festrede — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.37350#0003
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Hochansehnliche Versammlung!
Als vor 150 Jahren der hervorragende Mathematiker und
Philosoph Lambert für die Einheitlichkeit allen menschlichen
Wissens eintrat und sich zur Begründung seiner Ansicht ganz
auf den Boden einer realen Raum- und Zeitwelt stellte, da war
zu einer überzeugenden Darlegung einer derartigen philosophischen
und psychologischen Weltanschauung nicht nur die Genialität
geistiger Schaffenskraft erforderlich, sondern auch ein nicht ge-
ringes Selbstbewußtsein in der persönlichen Einschätzung einer
umfassenden Übersicht über Form und Inhalt der verschiedensten
Zweige menschlicher Erkenntnis. Und in der Tat, als Lambert.
von Friedrich dem Grossen an die Berliner Akademie berufen
in der ersten Audienz von diesem gefragt wurde, welche Wissen-
schaften er vorzüglich verstehe, antwortete er: „alle“, und auf
die weitere Frage, wie er all dieses Wissen erlangt habe, erfolgte
die stolze, wenn auch nicht ganz höfliche und bescheidene Ant-
wort: „gleich dem berühmten Pascal, durch mich selbst“. Aber
der große König kannte die Schwächen auch genialer Menschen
und gewährte dem tiefen Denker seine Gunst bis zu dessen Ende
— wußte er doch, welche Verehrung Lambert bei den ersten Ge-
lehrten seiner Zeit genoß. „Er halte ihn für das größte Genie
Deutschlands“, schrieb Kant an Lambert, „und für den Mann,
der am besten imstande sei, die Philosophie zu reformieren; keine
Zeile wolle er in seinen Werken stehen lassen, die Lambert nicht
klar und deutlich fände.“
Und doch mußte es Lambert noch erleben, daß Kant sehr
bald seinen realistischen Standpunkt aufgab und schon in seiner
Preisschrift der Berliner Akademie im Jahre 1763 nachwies, daß
Philosophie und Mathematik in ihren Methoden nicht nur, sondern
auch in der Evidenz ihrer Sätze völlig verschieden sind, da Meta-
physik und Moral unzählige Urteile einschließen, welche, streng
genommen, unerweislich seien. Seine Sonderung der kritischen
von der praktischen Vernunft gab der Klassifikation der Wissen-
schaften in Geistes- und Naturwissenschaften eine feste Basis
 
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