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Koenigsberger, Leo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung A, Mathematisch-physikalische Wissenschaften (1913, 8. Abhandlung): Die Mathematik, eine Geistes- oder Naturwissenschaft?: Festrede — Heidelberg, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.37350#0004
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4 (A. 8)

Leo Koenigsberger.

und ermöglicht heute im Rückblick auf den während eines Jahr-
hunderts gewonnenen Zuwachs an menschlicher Erkenntnis auf
den verschiedensten Gebieten des Wissens, Glaubens und Fühlens
die Erörterung einer mir naheliegenden Frage, ob die Mathematik
den Geistes- oder den Naturwissenschaften angehöre.
Aber wir wollen —■ durch das Beispiel Lamberts gewarnt —
an diese Frage mit aller Vorsicht und Bescheidenheit herantreten,
und zugleich eine Ansicht Harnacks zu klären suchen, welcher
er in den Worten Ausdruck gibt: ,,Der Begriff der Wissenschaft
war damals (im achtzehnten Jahrhundert) noch nicht ein so loses
Gefüge von Disziplinen, wie er es in unserem Jahrhundert geworden
ist, sondern er schwebte als ein Ganzes vor Augen, und die Aus-
bildung einer neuen Form wissenschaftlicher Überlieferung und
Mitteilung im Gegensatz zur scholastischen beschäftigte die höher
Strebenden mindestens ebensosehr, wie die Sache selbst.“
Um eine feste Grundlage für unsere Betrachtungen zu ge-
winnen, welche zunächst die Geistes- und Naturwissenschaften
in ihrer Allgemeinheit charakterisieren und sodann die Stelle
bestimmen sollen, welche die Mathematik in der Gesamtheit
aller dieser Wissenschaften einnimmt, müssen wir vor allem zum
Verständnis der Genesis einer Wissenschaft die Beantwortung
der Frage versuchen, wie kommt menschliche Erkenntnis über-
haupt zustande, und wie bauen sich die so gewonnenen Er-
kenntnisse zu einer Wissenschaft auf ?
Wir bekennen uns dabei von vornherein zu der Überzeugung,
daß es für den Menschen apriorische Erkenntnisse nicht gibt,
daß uns vielmehr die Natur mit geistigen Instrumenten ausgerüstet
hat, den mannigfachen Erkenntnisvermögen, und mit festen, durch
die Logik gegebenen Normen, nach denen jene zu gebrauchen sind,
um Erkenntnisse zu erlangen. So bilden Raum und Zeit die Form
der reinen Anschauung und des reinen Denkens, der kategorische
Imperativ das Instrument der Ethik, die apriorische Anschauung
des Schönen das Erkenntnisvermögen der Ästhetik u. a. mehr.
Aber all’ diese Instrumente des menschlichen Geistes sowie die
Normen des Denkens, an sich leer und inhaltlos, können uns in
Wirklichkeit, Erkenntnis nur liefern, wenn wir uns auf den Boden
der Erfahrung stellen, welche sinnlicher Wahrnehmung physischer
Objekte oder innerer Beobachtung seelischer Vorgänge entspringt.
Wie wir uns dieser äußeren und inneren Wahrnehmungen bewußt
werden, das zu erkennen, ist dem Menschen versagt, und eben-
 
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