Die Mathematik eine Geistes- oder Naturwissenschaft? (A. 8) 5
sowenig können wir vermöge des an sich leeren Schematismus
des Denkens die Gesetze des Denkens selbst erforschen und die
uns dafür verliehenen Normen ergründen wollen — die Erwägung
all’ dieser Fragen gehört nicht in das Gebiet des Wissens, sondern
in das des Glaubens und Fühlens, in die Metaphysik.
Aber dessen sind wir uns stets bewußt, daß, um mit Hilfe
der uns zu Gebote stehenden geistigen Instrumente und Normen
Erkenntnisse zu gewinnen und diese in Handlungen physischer
oder psychischer Natur zu betätigen, uns Kräfte verliehen sind,
die wir willkürlich nach unserem freien Willen in Wirksamkeit
treten lassen — vor allem Vernunft und Verstand. Während die
Vernunft eine Erregbarkeit, an sich für unsere Erkenntnis leer und
inhaltlos, durch äußere sinnliche oder innere geistige und seelische
Affekte zur Tätigkeit anregbar und mittels des Gedächtnisses zur
Synthesis der Erkenntnisse mit Hilfe der Gesetze des Denkens
befähigt ist, wird der Verstand durch Abstraktion und Analyse
die gewonnenen Erkenntnisse nach dem Unendlichen hin erweitern
und in die primitivsten Anfänge hin verfolgen; er wird so das
menschliche Wissen stetig in die unermeßlichen Tiefen des Raumes
und der Zeit leiten, wo die für den Forschungstrieb des Menschen
stets so verlockenden Gefilde der Metaphysik menschliches Wissen
abwehren und nur Glauben und Fühlen gedeihen lassen. „Wo
die Vernunft vorher nichts verbunden hat“, sagt Kant, „kann
auch der Verstand nichts auflösen; daher ist Synthesis für das
logische Verständnis des Erkennens notwendig das Erste, die
Analysis von Bedeutung nur als deren reine Umkehrung.“ Wie
und wann aber bei erfahrungsmäßigem Denken die Synthesis
der Vernunft einsetzt, um uns Erkenntnisse zu liefern, das
werden wir mit Hilfe von Vernunft und Verstand nie be-
greifen.
Ohne Erfahrung also, ohne bewußte Berührung mit der Außen-
und Innenwelt gibt es für uns kein Wissen, keine Erkenntnis des
Guten und Schönen, keine Einsicht in die Gesetze der physischen
und geistigen Mächte.
Gestatten Sie mir, verehrte Anwesende, daß ich mich, um
meinen weiteren Erörterungen und späteren Schlußfolgerungen
eine größere Klarheit und Anschaulichkeit zu geben, einer Alle-
gorie bediene, die von Helmholtz in feinsinniger Weise gedichtet
worden, als ihm wenige Tage nach dem großen Heidelberger
Universitätsjubiläum in eben diesem Saale in der Festsitzung
sowenig können wir vermöge des an sich leeren Schematismus
des Denkens die Gesetze des Denkens selbst erforschen und die
uns dafür verliehenen Normen ergründen wollen — die Erwägung
all’ dieser Fragen gehört nicht in das Gebiet des Wissens, sondern
in das des Glaubens und Fühlens, in die Metaphysik.
Aber dessen sind wir uns stets bewußt, daß, um mit Hilfe
der uns zu Gebote stehenden geistigen Instrumente und Normen
Erkenntnisse zu gewinnen und diese in Handlungen physischer
oder psychischer Natur zu betätigen, uns Kräfte verliehen sind,
die wir willkürlich nach unserem freien Willen in Wirksamkeit
treten lassen — vor allem Vernunft und Verstand. Während die
Vernunft eine Erregbarkeit, an sich für unsere Erkenntnis leer und
inhaltlos, durch äußere sinnliche oder innere geistige und seelische
Affekte zur Tätigkeit anregbar und mittels des Gedächtnisses zur
Synthesis der Erkenntnisse mit Hilfe der Gesetze des Denkens
befähigt ist, wird der Verstand durch Abstraktion und Analyse
die gewonnenen Erkenntnisse nach dem Unendlichen hin erweitern
und in die primitivsten Anfänge hin verfolgen; er wird so das
menschliche Wissen stetig in die unermeßlichen Tiefen des Raumes
und der Zeit leiten, wo die für den Forschungstrieb des Menschen
stets so verlockenden Gefilde der Metaphysik menschliches Wissen
abwehren und nur Glauben und Fühlen gedeihen lassen. „Wo
die Vernunft vorher nichts verbunden hat“, sagt Kant, „kann
auch der Verstand nichts auflösen; daher ist Synthesis für das
logische Verständnis des Erkennens notwendig das Erste, die
Analysis von Bedeutung nur als deren reine Umkehrung.“ Wie
und wann aber bei erfahrungsmäßigem Denken die Synthesis
der Vernunft einsetzt, um uns Erkenntnisse zu liefern, das
werden wir mit Hilfe von Vernunft und Verstand nie be-
greifen.
Ohne Erfahrung also, ohne bewußte Berührung mit der Außen-
und Innenwelt gibt es für uns kein Wissen, keine Erkenntnis des
Guten und Schönen, keine Einsicht in die Gesetze der physischen
und geistigen Mächte.
Gestatten Sie mir, verehrte Anwesende, daß ich mich, um
meinen weiteren Erörterungen und späteren Schlußfolgerungen
eine größere Klarheit und Anschaulichkeit zu geben, einer Alle-
gorie bediene, die von Helmholtz in feinsinniger Weise gedichtet
worden, als ihm wenige Tage nach dem großen Heidelberger
Universitätsjubiläum in eben diesem Saale in der Festsitzung