Die Mathematik eine Geistes- oder Naturwissenschaft? (A. 8) 11
die reine abstrakte Mathematik betrifft, entkräften — wenn wir
auch Che vre ul wohl werden beistimmen müssen, daß häufig
Hypothesen, die von großen Forschern bewußt oder unbewußt
zum Aufbau zahlentheoretischer oder analytischer Gebilde ver-
wendet werden, erst durch die Analyse dieser Beziehungen klar
erkannt und wir so zur Erweiterung unserer rein mathematischen
Erkenntnisse geführt werden
Aber nun wendet sich Hermite in überaus geistvollen Ge-
dankengängen auch direkt gegen die Anschauung, daß durch
Rechnung neue Erkenntnisse nicht gewonnen werden können.
„Besteht doch die Analysis“, sagt er, „nicht nur aus einem
Ensemble von Übereinkommen, und ist doch die Rechnung keine
Wissenschaft von Bezeichnungen; denn man muß in der Analysis
das, was Objekt des Kalküls ist, von den Methoden und Resultaten
unterscheiden, welche sie liefert — so wie in der Chemie, Physiologie
und den beschreibenden Naturwissenschaften die toten oder
lebendigen Körper, welche diese zu Objekten ihrer Studien wählen,
ohne sie zu schaffen, zu unterscheiden sind von den Forschungs-
methoden und deren Resultaten. Die Gegenstände des Kalküls
erscheinen zuerst nicht mit der objektiven Realität der Mineralien
und Tiere, aber die ganzen Zahlen, zum Beispiel, erscheinen nicht
weniger unabhängig von jeder willkürlichen Konvention. Wir
können aber zwischen den beiden Erkenntnisarten den notwen-
digen und fundamentalen Unterschied feststellen, daß die ver-
schiedenen Größen, welche den Gegenstand der Mathematik
bilden, mit einer Definition eingeführt werden, welche sie voll-
ständig und absolut charakterisiert, während man nicht behaupten
kann, auf eine solche Weise die Attribute eines Phänomens zu
kennen, welches sich auf ein konkretes Wesen bezieht.“
In Wirklichkeit liefert also die Mathematik Erkenntnisse und
ist in dem früher angegebenen Sinne eine Naturwissenschaft, für
welche Raum und Zeit die einzigen Anschauungsformen bilden
zur Ordnung der räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeiten der
Erscheinungen. Sie gibt den Begriffen Zahl, Gestalt und Dauer
ihre Entstehung, und auf diesen baut sich mit Hilfe von Defi-
nitionen und den Hypothesen des Unendlichen und der Stetigkeit
mit ihren Axiomen und Postulaten die gesamte mathematische
Wissenschaft auf.
Vor mehr als 30 Jahren charakterisierte ich, noch ohne
Kenntnis des Che vre ul5 sehen Werkes, in einem Briefwechsel
die reine abstrakte Mathematik betrifft, entkräften — wenn wir
auch Che vre ul wohl werden beistimmen müssen, daß häufig
Hypothesen, die von großen Forschern bewußt oder unbewußt
zum Aufbau zahlentheoretischer oder analytischer Gebilde ver-
wendet werden, erst durch die Analyse dieser Beziehungen klar
erkannt und wir so zur Erweiterung unserer rein mathematischen
Erkenntnisse geführt werden
Aber nun wendet sich Hermite in überaus geistvollen Ge-
dankengängen auch direkt gegen die Anschauung, daß durch
Rechnung neue Erkenntnisse nicht gewonnen werden können.
„Besteht doch die Analysis“, sagt er, „nicht nur aus einem
Ensemble von Übereinkommen, und ist doch die Rechnung keine
Wissenschaft von Bezeichnungen; denn man muß in der Analysis
das, was Objekt des Kalküls ist, von den Methoden und Resultaten
unterscheiden, welche sie liefert — so wie in der Chemie, Physiologie
und den beschreibenden Naturwissenschaften die toten oder
lebendigen Körper, welche diese zu Objekten ihrer Studien wählen,
ohne sie zu schaffen, zu unterscheiden sind von den Forschungs-
methoden und deren Resultaten. Die Gegenstände des Kalküls
erscheinen zuerst nicht mit der objektiven Realität der Mineralien
und Tiere, aber die ganzen Zahlen, zum Beispiel, erscheinen nicht
weniger unabhängig von jeder willkürlichen Konvention. Wir
können aber zwischen den beiden Erkenntnisarten den notwen-
digen und fundamentalen Unterschied feststellen, daß die ver-
schiedenen Größen, welche den Gegenstand der Mathematik
bilden, mit einer Definition eingeführt werden, welche sie voll-
ständig und absolut charakterisiert, während man nicht behaupten
kann, auf eine solche Weise die Attribute eines Phänomens zu
kennen, welches sich auf ein konkretes Wesen bezieht.“
In Wirklichkeit liefert also die Mathematik Erkenntnisse und
ist in dem früher angegebenen Sinne eine Naturwissenschaft, für
welche Raum und Zeit die einzigen Anschauungsformen bilden
zur Ordnung der räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeiten der
Erscheinungen. Sie gibt den Begriffen Zahl, Gestalt und Dauer
ihre Entstehung, und auf diesen baut sich mit Hilfe von Defi-
nitionen und den Hypothesen des Unendlichen und der Stetigkeit
mit ihren Axiomen und Postulaten die gesamte mathematische
Wissenschaft auf.
Vor mehr als 30 Jahren charakterisierte ich, noch ohne
Kenntnis des Che vre ul5 sehen Werkes, in einem Briefwechsel