Die Mathematik eine Geistes- oder Naturwissenschaft? (A. 8) 13
sodann vermöge unserer geistigen Kräfte ein System von apri-
orischen, von der Erfahrung völlig unabhängigen Urteilen auf
und trägt so vermöge jenes Ausgangspunktes die Gültigkeit ihrer
Urteile in sich.
Vielleicht werden alle diese Überlegungen es nicht unberechtigt
erscheinen lassen, für die Mathematik das Bürgerrecht im Reiche
der Geistes- und Kulturwissenschaften zu beanspruchen —- sie
ist in eminentem Sinne eine philosophische Wissenschaft, aber sie
ist auch eine Sprachwissenschaft mit allen Schönheiten der Form
und der Tiefe der Gedanken, die freilich nur der erkennen und
fühlen kann, der die Sprache versteht; ein Lexikon für die
Werke von Euler oder Gauss würde, kulturwissenschaftlich
betrachtet, nicht zurückstehen gegen ein solches der Schriften
von Plautus und Terenz.
Mit Recht sagt Henri Poincare in seinem letzten Vortrage,
den er im vorigen Jahre in Wien gehalten:
„Dichter, die diesen Namen verdienen, sind stets feine Be-
obachter, sie haben Menschenkenntnis. Und wie notwendig ist
es für den wissenschaftlichen Forscher, in jedem Gebiete in Men-
schenseelen zu lesen! Auch glaube man ja nicht, daß die wissen-
schaftliche Tätigkeit eine rein logische ist. Der Mann der Wissen-
schaft muß auch die Gabe der Intuition besitzen, er muß erraten
können. Diese seelischen Qualitäten werden durch literarische
und speziell durch klassische Studien gefördert, geschärft und zur
Reife gebracht. Das ist der praktische, methodologische Nutzen
dieser Studien. Der Mathematiker muß Humanist sein.“
Und so will auch die Mathematik als ebenbürtig von den
Humanisten geachtet sein; sie liefert als Geistes- und Natur-
wissenschaft den Beweis dafür, daß das scheinbar lose Gefüge
all der Einzelwissenschaften an einen festen Faden geknüpft ist,
welcher den großen Gedanken von der Einheitlichkeit aller Wissen-
schaften repräsentiert. Von diesem Einheitsgedanken geleitet
und von der Gemeinsamkeit in der Anwendung des Prinzips der
kritischen Forschung auf allen Wissensgebieten überzeugt wollte
Leirniz die Berliner Akademie bestimmen, eine große Enzyklo-
pädie alles Wissenswürdigen, oder Logarithmentafeln aller Wissen-
schaften anzufertigen.
Verehrte Anwesende! Ich bin mir dessen wohl bewußt,
daß durch die Tradition geheiligte Anschauungen schwer durch
abstrakte Argumente zu erschüttern sind — denn das bloße
sodann vermöge unserer geistigen Kräfte ein System von apri-
orischen, von der Erfahrung völlig unabhängigen Urteilen auf
und trägt so vermöge jenes Ausgangspunktes die Gültigkeit ihrer
Urteile in sich.
Vielleicht werden alle diese Überlegungen es nicht unberechtigt
erscheinen lassen, für die Mathematik das Bürgerrecht im Reiche
der Geistes- und Kulturwissenschaften zu beanspruchen —- sie
ist in eminentem Sinne eine philosophische Wissenschaft, aber sie
ist auch eine Sprachwissenschaft mit allen Schönheiten der Form
und der Tiefe der Gedanken, die freilich nur der erkennen und
fühlen kann, der die Sprache versteht; ein Lexikon für die
Werke von Euler oder Gauss würde, kulturwissenschaftlich
betrachtet, nicht zurückstehen gegen ein solches der Schriften
von Plautus und Terenz.
Mit Recht sagt Henri Poincare in seinem letzten Vortrage,
den er im vorigen Jahre in Wien gehalten:
„Dichter, die diesen Namen verdienen, sind stets feine Be-
obachter, sie haben Menschenkenntnis. Und wie notwendig ist
es für den wissenschaftlichen Forscher, in jedem Gebiete in Men-
schenseelen zu lesen! Auch glaube man ja nicht, daß die wissen-
schaftliche Tätigkeit eine rein logische ist. Der Mann der Wissen-
schaft muß auch die Gabe der Intuition besitzen, er muß erraten
können. Diese seelischen Qualitäten werden durch literarische
und speziell durch klassische Studien gefördert, geschärft und zur
Reife gebracht. Das ist der praktische, methodologische Nutzen
dieser Studien. Der Mathematiker muß Humanist sein.“
Und so will auch die Mathematik als ebenbürtig von den
Humanisten geachtet sein; sie liefert als Geistes- und Natur-
wissenschaft den Beweis dafür, daß das scheinbar lose Gefüge
all der Einzelwissenschaften an einen festen Faden geknüpft ist,
welcher den großen Gedanken von der Einheitlichkeit aller Wissen-
schaften repräsentiert. Von diesem Einheitsgedanken geleitet
und von der Gemeinsamkeit in der Anwendung des Prinzips der
kritischen Forschung auf allen Wissensgebieten überzeugt wollte
Leirniz die Berliner Akademie bestimmen, eine große Enzyklo-
pädie alles Wissenswürdigen, oder Logarithmentafeln aller Wissen-
schaften anzufertigen.
Verehrte Anwesende! Ich bin mir dessen wohl bewußt,
daß durch die Tradition geheiligte Anschauungen schwer durch
abstrakte Argumente zu erschüttern sind — denn das bloße