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P. ERNST:
chemisch gedacht. Also sie inbegriffen und ohne Ausnahme lehrt
die Geschichte der wissenschaftlichen Medizin in ihren drei großen
Epochen der letzten hundert Jahre, nämlich in der naturphiloso-
phischen, der rein morphologischen unter der Herrschaft der
Zellenlehre, und endlich der physikalisch-chemischen Periode
ihre Abhängigkeit von den führenden Geistesrichtungen. Nach
ihren Methoden kann die Pathologie nur Naturwissenschaft sein
und ihr höchster Preis, sich als solche anerkannt zu sehen. Da-
neben und darüber hinaus ist nichts zu suchen. Natur ist das
Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt
ist (Kant). Seit VmcHow aber beherrscht uns das Axiom von der
Identität der Gesetzmäßigkeit des Lebens im normalen Zustand
der Gesundheit und unter abnormen Bedingungen der Krankheit,
welche ohne scharfe Grenze ineinander übergehen. Wenn also die
Lebensforschung, die Biologie nach den Gesetzmäßigkeiten zu
fragen hat, so kann ihr ergänzendes Seitenstück, die Pathologie,
die Erforschung des Lebens unter abweichenden Bedingungen
keine andere Aufgabe haben. Sie ist ebenfalls nach dem Ausdruck
unseres Philosophen auf das nomothetische Verfahren angewie-
sen, im Gegensatz zum idiographischen Verfahren der Geschichte
(WiNDELBAND). Denn ,,nur das Allgemeine am Wirklichen können
wir Vorhersagen und gerade dadurch vermögen wir uns in ihm
zurechtzufinden. Wäre die Welt nicht generalisierend vereinfacht,
so würde ihre Berechnung und Beherrschung nie gelingen. Die
unübersehbare Mannigfaltigkeit des Individuellen und Besonderen
verwirrt uns, solange sie nicht durch die generalisierende Begriffs-
bildung überwunden ist" (RiCKERT). Gilt dies für Naturwissen-
schaft im allgemeinen, für die Biologie im besonderen, so gilt es
für die Pathologie in gesteigertem Maße, denn es ist klar, daß der
Spielraum der abnormen, abweichenden Bedingungen der Lebens-
erscheinungen viel weiter ist, als der Umkreis der normalen Bedin-
gungen. Die Abweichungen von der Norm sind unendlich. Frei-
lich kommt die praktische Medizin mit dem nomothetischen Ver-
fahren, dessen Ziel die Generalisation ist, nicht aus. ,,Gerade
dem klugen Arzte ist es nur zu wohl bekannt, daß es in Wirklich-
keit keine ,,Krankheiten", sondern lediglich kranke Individuen
gibt, und daß er bei seiner Tätigkeit daher oft mit dem, was in
naturwissenschaftlichen Büchern steht, allein nicht auskommt. Er
muß auch zu individualisieren verstehen, und das kann die Natur-
wissenschaft ihn nie lehren" (RiCKERT). Die Generalisation aber
P. ERNST:
chemisch gedacht. Also sie inbegriffen und ohne Ausnahme lehrt
die Geschichte der wissenschaftlichen Medizin in ihren drei großen
Epochen der letzten hundert Jahre, nämlich in der naturphiloso-
phischen, der rein morphologischen unter der Herrschaft der
Zellenlehre, und endlich der physikalisch-chemischen Periode
ihre Abhängigkeit von den führenden Geistesrichtungen. Nach
ihren Methoden kann die Pathologie nur Naturwissenschaft sein
und ihr höchster Preis, sich als solche anerkannt zu sehen. Da-
neben und darüber hinaus ist nichts zu suchen. Natur ist das
Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt
ist (Kant). Seit VmcHow aber beherrscht uns das Axiom von der
Identität der Gesetzmäßigkeit des Lebens im normalen Zustand
der Gesundheit und unter abnormen Bedingungen der Krankheit,
welche ohne scharfe Grenze ineinander übergehen. Wenn also die
Lebensforschung, die Biologie nach den Gesetzmäßigkeiten zu
fragen hat, so kann ihr ergänzendes Seitenstück, die Pathologie,
die Erforschung des Lebens unter abweichenden Bedingungen
keine andere Aufgabe haben. Sie ist ebenfalls nach dem Ausdruck
unseres Philosophen auf das nomothetische Verfahren angewie-
sen, im Gegensatz zum idiographischen Verfahren der Geschichte
(WiNDELBAND). Denn ,,nur das Allgemeine am Wirklichen können
wir Vorhersagen und gerade dadurch vermögen wir uns in ihm
zurechtzufinden. Wäre die Welt nicht generalisierend vereinfacht,
so würde ihre Berechnung und Beherrschung nie gelingen. Die
unübersehbare Mannigfaltigkeit des Individuellen und Besonderen
verwirrt uns, solange sie nicht durch die generalisierende Begriffs-
bildung überwunden ist" (RiCKERT). Gilt dies für Naturwissen-
schaft im allgemeinen, für die Biologie im besonderen, so gilt es
für die Pathologie in gesteigertem Maße, denn es ist klar, daß der
Spielraum der abnormen, abweichenden Bedingungen der Lebens-
erscheinungen viel weiter ist, als der Umkreis der normalen Bedin-
gungen. Die Abweichungen von der Norm sind unendlich. Frei-
lich kommt die praktische Medizin mit dem nomothetischen Ver-
fahren, dessen Ziel die Generalisation ist, nicht aus. ,,Gerade
dem klugen Arzte ist es nur zu wohl bekannt, daß es in Wirklich-
keit keine ,,Krankheiten", sondern lediglich kranke Individuen
gibt, und daß er bei seiner Tätigkeit daher oft mit dem, was in
naturwissenschaftlichen Büchern steht, allein nicht auskommt. Er
muß auch zu individualisieren verstehen, und das kann die Natur-
wissenschaft ihn nie lehren" (RiCKERT). Die Generalisation aber