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Kossel, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Abteilung B, Biologische Wissenschaften (1921, 1. Abhandlung): Über die Beziehung der Biochemie zu den morphologischen Wissenschaften: Rede ... — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.41199#0005
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Über die Beziehung der Biochemie zu den morphologischen Wissenschaften. 5
Man kann diese Betrachtung und Bewertung der anatomischen
und chemischen Gebilde als die physiologische bezeichnen. Ihr
steht eine zweite Art der wissenschaftlichen Bearbeitung gegenüber,
welche nicht nach der Funktion, sondern nach der Entstehung der
Teile frag!. Man sucht die Bildung der Form im Laufe der Ent-
wicklung des Individuums zu verfolgen. An diese Forschungen
knüpfen sich Untersuchungen über die einzelnen Einflüsse, welche
die Bildung der Formen beherrschen, weiterhin Arbeiten über das
Wesen des Befruchtungsvorganges und die Erscheinungen der Ver-
erbung. Die Untersuchungsmethode beruht darauf, daß man ver-
schiedene Altersstufen ein und derselben Spezies mit einander ver-
gleicht und auf diese Weise feststellt, durch welche Formenreihe
hindurch sich die Gestalt des Körpers und seiner Organe entwickelt.
Durch Veränderung der Lebensbedingungen während der Entwick-
lung und durch experimentelle Eingriffe verschiedener Art und durch
statistische Untersuchungen über erbliche Merkmale in verschiedenen
Generationsreihen versucht man diu Natur über die Mechanik dieser
Vorgänge zu befragen.
Ein drittes Wissensgebiet, welches aus der Verarbeitung ana-
tomischer Ergebnisse hervorgegangen ist, ist das der „vergleichen-
den Anatomie.“ Ihre Methode besteht darin, daß man die ver-
schiedenen Arten, Ordnungen, Klassen und Kreise der Organismen
reihenweise nebeneinander stellt und ihre Organe bezüglich ihrer
Gestalt, ihrer Struktur und ihrer Lage miteinander vergleicht. Auf
diese Weise gelangt man zur Aufstellung eines Systems von Tieren
oder Pflanzen, deren Organe Pmihen von Formzuständen und stufen-
weise fortschreitende Änderungen darstellen. Auch hier drängt sich
dem Beobachter die Vorstellung von einer Entwicklung auf, die in
überaus langen Zeitperioden zur Ausbildung der arteigenen Formen
geführt hat und die der in kurzer Zeit vollendeten Entwicklung des
Individuums ähnlich ist. Diese Vorstellung setzt eine Abstammung
einer Art von der andern, eine Veränderlichkeit der Form und eine
Vererbung der veränderten Form voraus. Man kommt zu der Er-
kenntnis, daß ein und dieselbe Organanlage bei den verschiedenen
Generationsreihen zu verschiedenartigen Verrichtungen herangebildet
werden kann. Die vergleichende Anatomie lehrt, daß dasjenige
Organ, welches bei den Fischen als Schwimmblase ausgebildet ist,
bei den auf dem Festland lebenden Wirbeltieren zur Lunge um-
gebildet ist. Das ist ein bekanntes Beispiel für den „Funktions-
wechsel“ eines Formgebildes. Eine solche Anpassung an einen
 
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