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Bekker, Ernst Immanuel; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1912, 8. Abhandlung): Das Recht als Menschenwerk und seine Grundlagen — Heidelberg, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.32883#0009
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Das Recht als Menschenwerk und seine Grundlagen.

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behrlich, die genaue Kenntnis der Grenzen unseres Wissens,
wie sie die Sonderung des Gewußten und des Ungewußten, „ars
nesciendi“, fordert.
Aber gerade an dieser fehlt es oft, und fast möchte man
sagen, wunderbarerweise ist der Schaden nicht so groß, wie
man etwa fürchten könnte. In uns liegt der Trieb, die Lücken
des Wissens auszufüllen mit neuern Gewußtem, Geglaubtem,
dessen Wahrheit einstweilen nicht zu erweisen ist. Wird später
die Irrtümlichkeit des Ergänzungsstücks erkannt, so fühlt man
sich leicht versucht, mit dem Falschen aucli das Wahre, an
das dieses sich anknüpft, über ßord zu werfen. Sehr mit Unrecht,
denn das Wahre bleibt wahr trotz der fehlerhaften Ergänzung,
und falsch ist nur das Produkt, das sich aus der Vermischung
von Wahrem und Geglaubtem ergeben hatte. Seit Jahrtausenden
wußte man, daß die Sonne das Wärme und Licht. spendende
Gestirn ist und täglich im Osten auf-, im Westen untergeht;
bis auf Copernicus aber und seine wenigen Vorläufer erklärte
man dies aus einem Rotieren der Sonne um die Erde. Nachdem
dann der Irrtum aller Welt faßlich erwiesen worden, blieb doch,
was man Übriges von den Einwirkungen des großen Licht- und
Wärmespenders gewußt hatte, nicht minder wahr. Oder: Landrat
von X. hat in der Dämmerung bei einer Treibjagd den Obersten
Y. erschossen, der sich vorschriftswidrig bewegt, und den X.
deshalb für ein Wild angesehen hatte. X. hat im Irrtum ge-
handelt, aber dieser Irrtum knüpfte sich an eine verbleibende
Wahrheit, der erschauten ungehörigen Bewegung des Y. Leug-
neten die Arianer die Gottesnatur Christi, so konnten sie doch
an seiner begnadeten Person festhalten, und wenn jetzt auch die
Persönlichkeit zum Produkt einer Mythenbildung würde, so
könute doch, was wir von der Macht des Christentums wissen,
'aufrecht erhalten werden; trotz dem Falle des „creditum“ bliebe
das „credidisse“ in seiner ganzen Bedeutung Wirklichkeit, und
nnsere Kenntnis von dieser Wahrheit.
Die feinere xLusbildung der „ars nesciendi“ aber stößt vor-
nehmlich deshalb auf Schwierigkeiten, weil uns ein allgemeines
Kennzeichen der Wahrheit, und mithin des Wissens, abgeht.
Wir wissen zu wenig von dem Vorgange des Erkennens, um
mit Sicherheit annehmen zu dürfen, an das Ziel gelangt zu sein,
die Wahrheit erfaßt zu haben. So muß der Erfolg entscheidend
wirken: das Erkannte muß unbestreitbar sein, kein Zweifel mag
 
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