36
E. I. Bekker :
Die fehlende Rechtsvorschrift ist durch die zu der Zeit und an
dem Ort geltenden, in Kraft stehenden Rechtsquellen zu be-
schaffen, deren Fülle in Wirklichkeit zu groß ist, um in den Ge-
bieten der beliebten Namen „Gesetz“ und „Gewohnheitsrecht“
Unterkunft zu finden. Wir hahen kein „officium ius dicentis“
oder „iudicis“, keine „edicta praetorum“ oder „aedilium“, auch
kein „Ed. provinciale“, keine „responsa prudentium“ noch ,,re-
scripta principum“, und wieder kannten die Römer nicht den
Gegensatz von Gesetz und Verordnung, Reichs- und Landes-
gesetzgebung, kein oberstes Reichsgericht und keine gedruckte
Literatur. Andere Rilder zeigen das alte deutsche, das kano-
nische, das englische, das amerikanische Recht usw. usw. AVie
unnütz erscheinen hiernach viele Streitereien, die über das
Verhalteji von Gesetz und Gewolmheit zueinander geführt
sind, als ob clies eine starr (naturrechtlicli) zu entscheidende
Fra.ge wäre.
Ebenso muß es den je in Geltung stehenden Rechtsquellen
überlassen hleiben, Ahhilfe zu schaffen, wo eine ältere Vor-
schrift den begründeten Anforderungen der Gegenwart nicht
mehr entspricht. Anders bei den Normen, die den vielleicht von
manchen gewünschten zweifellos festen Anha.1t nicht geben; hier
stehen wir nicht mehr vor einer mehr oder weniger krankhaften
Erscheinung, clie nach Möglichkeit zu bekämpfen wäre, sondern
vor einem Etwas, das bei ausnahmslos allen nicht auf kleinstes
Anwendungsgebiet beschränkten Rechten wiederkehrt, dem
Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Massen, „ius cer-
tum“ und „ius incertum“. Die aus jenem zu schöpfende Ent-
scheidung kann nur so und nicht anclers sein, sie ist „richtig“
oder „falsch“, der Vorschrift widersprechend. Reim „ius in-
certum“ dagegen gibt es keine schlechthin richtige Entschei-
dung, sie darf so ocler anders ausfallen, nur bisweilen ist die
eine besser als die andere. Man gedenke des römischen „ius
controversum“ ocler sehe die modernen Spruchsammlungen
durch; sehr oft haben die Richter der verschiedenen Instanzen
verschieclen erkannt, und nicht selten wircl uns ein Zweifel
bleiben, ob clie Entscheiclung cles höchsten Richters just clie
richtige gewesen. Oder noch, man vergleiche die Kommentare
zu unserm EGE., gewiß daß sie tausend Fragen gleich beant-
worten, einige hundert aber auch verschieden. Wer hat recht?
Und wäre das bei anderen Gesetzbüchern anders? Ocler sollten
E. I. Bekker :
Die fehlende Rechtsvorschrift ist durch die zu der Zeit und an
dem Ort geltenden, in Kraft stehenden Rechtsquellen zu be-
schaffen, deren Fülle in Wirklichkeit zu groß ist, um in den Ge-
bieten der beliebten Namen „Gesetz“ und „Gewohnheitsrecht“
Unterkunft zu finden. Wir hahen kein „officium ius dicentis“
oder „iudicis“, keine „edicta praetorum“ oder „aedilium“, auch
kein „Ed. provinciale“, keine „responsa prudentium“ noch ,,re-
scripta principum“, und wieder kannten die Römer nicht den
Gegensatz von Gesetz und Verordnung, Reichs- und Landes-
gesetzgebung, kein oberstes Reichsgericht und keine gedruckte
Literatur. Andere Rilder zeigen das alte deutsche, das kano-
nische, das englische, das amerikanische Recht usw. usw. AVie
unnütz erscheinen hiernach viele Streitereien, die über das
Verhalteji von Gesetz und Gewolmheit zueinander geführt
sind, als ob clies eine starr (naturrechtlicli) zu entscheidende
Fra.ge wäre.
Ebenso muß es den je in Geltung stehenden Rechtsquellen
überlassen hleiben, Ahhilfe zu schaffen, wo eine ältere Vor-
schrift den begründeten Anforderungen der Gegenwart nicht
mehr entspricht. Anders bei den Normen, die den vielleicht von
manchen gewünschten zweifellos festen Anha.1t nicht geben; hier
stehen wir nicht mehr vor einer mehr oder weniger krankhaften
Erscheinung, clie nach Möglichkeit zu bekämpfen wäre, sondern
vor einem Etwas, das bei ausnahmslos allen nicht auf kleinstes
Anwendungsgebiet beschränkten Rechten wiederkehrt, dem
Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Massen, „ius cer-
tum“ und „ius incertum“. Die aus jenem zu schöpfende Ent-
scheidung kann nur so und nicht anclers sein, sie ist „richtig“
oder „falsch“, der Vorschrift widersprechend. Reim „ius in-
certum“ dagegen gibt es keine schlechthin richtige Entschei-
dung, sie darf so ocler anders ausfallen, nur bisweilen ist die
eine besser als die andere. Man gedenke des römischen „ius
controversum“ ocler sehe die modernen Spruchsammlungen
durch; sehr oft haben die Richter der verschiedenen Instanzen
verschieclen erkannt, und nicht selten wircl uns ein Zweifel
bleiben, ob clie Entscheiclung cles höchsten Richters just clie
richtige gewesen. Oder noch, man vergleiche die Kommentare
zu unserm EGE., gewiß daß sie tausend Fragen gleich beant-
worten, einige hundert aber auch verschieden. Wer hat recht?
Und wäre das bei anderen Gesetzbüchern anders? Ocler sollten