Über Sinn und Wert des Phänomenalismus.
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schen Charakter, clie in der ersten Form, wie sie in der Kritik
der reinen Vernunft eingeführt wird, eine viel weitere, all-
gemeinere Bedeutung hat als in der anthropologischen Zu-
spitzung, worin sie als ein Hauptstück der kritischen Ethik und
Religionsphilosophie allgemein bekannt geblieben ist. Die kos-
mologische Theorie der Freiheit in den ,.Antinomien der reinen
Vernunft“ verlangt ausdrücklich, daß jedem Gebilde der Er-
scheinungswelt ein empirischer Charakter zukomme, der auf
den intelligiblen Charakter eines entsprechenden Gebildes in
der übersinnlichen Welt als auf seinen Grund hinweise. Von
diesem allgemeinen Verhältnis ist dann das des homo phaeno-
menon zum horno noumenon nur ein Spezialfall. Dabei verbirgt
sich, wie auch sonst in der Kritik, z. B. in dem Abschnitt über
den Grund der Unterscheidung aller Gegenstände in Phäno-
mena und Noumena, unter dein vagen Ausdruck „entsprechen“
mit dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung zugleich das
des Dinges zu seinen Zuständen und das der Ursache zu ihrer
Wirkung.
Es ist nun sehr bemerkenswert, daß diese widerspruchs-
volle Sachlage noch viel greifbarer bei Schopenhauer zutage
tritt, der sich bekanntlich im Rühmen der tiefsinnigen Uehre
vom intelligiblen Charakter nicht genug tun kann. Er sträubt
sich zwar sehr energisch dagegen, den intelligiblen Charakter,
der doch auch bei ihm die Schuld oder das Verdienst an der Art
des empirischen Charakters haben soll, als dessen „Ursache“
zu betrachten, und ebensowenig möchte er es zulassen, daß
das Ding-an-sich überhaupt, der Wille, als Ursache der Er-
scheinungswelt behandelt werde: das Verhältnis der „Objek-
tität“ soll ein ganz anderes sein als das der Kausalität; die
Begriffe von Grund und Ursache bedeuten ja verschiedene
Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grunde oder der all-
gemeinen Kategorie der Dependenz. Das ist im Prinzip recht
schön klar und scharf geschieden: aber sobakl wir in die be-
sondere Darsteliung eintreten, nimmt die Dependenz der Er-
scheinung vom Wesen in der Bestimmung der Erfahrungswelt
durch den Willen als Ding-an-sich sprachlich und gedanklich
immer solche Formen an, welche dem Verhältnis von Ursache
und Wirkung so verzweifelt ähnlich sehen, daß man sich nicht
wundern kann, wenn sie vom unbefangenen Leser durchaus
damit verwechselt wird. Dies Mißverhältnis wird auch dadurch
SitzuDgsIierichte der Heiclelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1912. 9. Ahh.
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schen Charakter, clie in der ersten Form, wie sie in der Kritik
der reinen Vernunft eingeführt wird, eine viel weitere, all-
gemeinere Bedeutung hat als in der anthropologischen Zu-
spitzung, worin sie als ein Hauptstück der kritischen Ethik und
Religionsphilosophie allgemein bekannt geblieben ist. Die kos-
mologische Theorie der Freiheit in den ,.Antinomien der reinen
Vernunft“ verlangt ausdrücklich, daß jedem Gebilde der Er-
scheinungswelt ein empirischer Charakter zukomme, der auf
den intelligiblen Charakter eines entsprechenden Gebildes in
der übersinnlichen Welt als auf seinen Grund hinweise. Von
diesem allgemeinen Verhältnis ist dann das des homo phaeno-
menon zum horno noumenon nur ein Spezialfall. Dabei verbirgt
sich, wie auch sonst in der Kritik, z. B. in dem Abschnitt über
den Grund der Unterscheidung aller Gegenstände in Phäno-
mena und Noumena, unter dein vagen Ausdruck „entsprechen“
mit dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung zugleich das
des Dinges zu seinen Zuständen und das der Ursache zu ihrer
Wirkung.
Es ist nun sehr bemerkenswert, daß diese widerspruchs-
volle Sachlage noch viel greifbarer bei Schopenhauer zutage
tritt, der sich bekanntlich im Rühmen der tiefsinnigen Uehre
vom intelligiblen Charakter nicht genug tun kann. Er sträubt
sich zwar sehr energisch dagegen, den intelligiblen Charakter,
der doch auch bei ihm die Schuld oder das Verdienst an der Art
des empirischen Charakters haben soll, als dessen „Ursache“
zu betrachten, und ebensowenig möchte er es zulassen, daß
das Ding-an-sich überhaupt, der Wille, als Ursache der Er-
scheinungswelt behandelt werde: das Verhältnis der „Objek-
tität“ soll ein ganz anderes sein als das der Kausalität; die
Begriffe von Grund und Ursache bedeuten ja verschiedene
Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grunde oder der all-
gemeinen Kategorie der Dependenz. Das ist im Prinzip recht
schön klar und scharf geschieden: aber sobakl wir in die be-
sondere Darsteliung eintreten, nimmt die Dependenz der Er-
scheinung vom Wesen in der Bestimmung der Erfahrungswelt
durch den Willen als Ding-an-sich sprachlich und gedanklich
immer solche Formen an, welche dem Verhältnis von Ursache
und Wirkung so verzweifelt ähnlich sehen, daß man sich nicht
wundern kann, wenn sie vom unbefangenen Leser durchaus
damit verwechselt wird. Dies Mißverhältnis wird auch dadurch
SitzuDgsIierichte der Heiclelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1912. 9. Ahh.