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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0004
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4

W. Windelband:

der stoisch-neuplatonische Rationalismus solche Wahrheiten, die,
im Wesen des Geistes selbst enthalten, niclit durch seine einzelnen
aus der Umwelt stammenden Erlebnisse begründet werden können,
als eingeboren hezeichnen zu sollen. Die Polemik, welche sich da-
gegen richtete, ging gern darauf ein, daß die Seele solche zu ihrem
Wesen gehörige und ihr von Anfang an innewohnenden Einsichten
durchaus nicht immer präsent habe, daß manche Seelen von diesem
ihrem Besitz niemals etwas erführen und daß deshalb die Behaup-
tung der eingeborenen Ideen nur unter der Voraussetzung aufrecht-
erhalten werden könne, daß die Seele vieles in sich habe, ohne sich
dessen bewußt zu sein. So ungern diese Folgerung zugegeben
wurde — aus Gründen, auf die ich zurückkomme —, so wenig
schien es möglich, ihr sich zu entziehen. Vieimehr nahm Leibniz
die Konsequenz mutig auf und führte sie bis in alle Ausgestal-
tungen seiner monadologischen Metaphysik durch. Nur vermöge
der unbewußten Vorstellungen konnte jede Monade mit ihren Vor-
stellungen die gesamte Welt in sich repräsentieren, und der'Philo-
soph suchte der Paradoxie eines solchen Besitzes der Seele, den sie
sich noch nicht im Bewußtsein angeeignet habe, durch eine geniale
Anwendung des Infinitesimalprinzips zu entgehen, indem er eine
Abnahme des Bewußtseins bis zu unendlich kleinen Intensitäten
voraussetzte.

Ganz anders sind die Transzendentalphilosophen auf die Hypo-
these des Unbewußten gestoßen. Fichtes Analyse des Systems der
Vernunft fiihrte auf die Empfindungen als die grundlos freien Akte
des Ich, die eben deshalb als solche unbewußt seien. Zum ganzen
Wesen der Intelligenz gehört nach ihm ihr durchweg reflexiver,
sich selbst verdoppelnder Charakter. Sie kann niclits tun, ohne
,,sich selbst zuschauend“ zu wissen, daß sie es tut: sie geht über
jeden ihrerAkte in der Reflexion liinaus. Es gibt, wieFiCHTE mit
küliner Paradoxie sagt, gar keinen ersten, sondern nur einen zweiten
Moment des Bewußtseins, und die ganze Struktur der Wissenschafts-
lehre besteht in dem immer erneuten Verhältnis der bewußten zu
den unbewußten Funktionen. Ja, im Begriffe des Selbstbewußt-
seins, der doch den obersten Ausgangspunkt fürFicHTE bildet, ist
dieser Gegensatz zwischen dem Selbst als Funktion und dem Selbst
als Inhalt von vornherein angelegt.

Niemand hat das besser zur Darstellung gebracht als Schel-
ling in seinem ,,System des transzendentalen Idealismus“.
Wenn hier der ganze Zusammenhang der Vernunft im Ästhetisclien
 
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