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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0013
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Die Hypothese des Unbewußten.

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ihm zu beharren: — das seelische Geschehen beruht immer auf
einer Verknüpfung zwischen der Gegenwart und der ganzen Ver-
gangenheit des psychischen Systems, an dem es stattfindet.

So dürfen wir uns in der Tat der Annahme des psychisch
Unbewußten mit Rücksicht auf diese Tatsachen des Gedächtnisses
nicht entziehen. Aber wenn wir genau zusehen, was damit bewiesen
ist, so finden wir immer ein Unbewußtes als ein Nichtmehrbewußtes.
Es ist immer etwas, was einmal, wenn auch noch so flüchtig,
irgendwie durch unser Bewußtsein gegangen ist. Dies Unbewußte
ist also nichts Fremdes, das mit dämonischer Unbegreiflichkeit an
uns haftete, sondern stets ein eigenes, das in uns selbst weiterlebt.
Befremdend ist uns nur unter Umständen die Intensität und Be-
deutsamkeit dieses Weiterlebens. Wir erstaunen vielleicht über
die Leuchtkraft einer Erinnerung, die nacli langen, langen Jahren
plötzlich zum erstenmal wieder in unserem Bewußtsein auftaucht.
Oder wir erschrecken über die Kraft eines Wollens, das wir erloschen
glaubten und nun auf einmal neu in uns lebendig werden fühlen.
Aber so lebhaft unsere Verwunderung darüber sein mag, so ist
doch alles Unbewußte, das wir auf diesem Wege in uns anzunehmen
veranlaßt sind, ein einst Bewußtes und uns Vertrautes.

Ein zweiter, ganz andersartiger Bezirk unbewußter seelischer
Realität scheint in dem weiten Ehnfang dessen vorzuliegen, was
wir in unserem ursprünglich bewußten Lebensinhalt hinterher als
implicite enthalten und notwendig zugehörig entdec-ken, ohne es
vorher bemerkt und ausdrücklich im Bewußtsein gehabt zu haben.
Wir erörtern das am besten an der Hand der Unterscheidungvon
klaren und deutlichen Vorstellungen, wie sie namenthch von
Leibniz glücklich durchgeführt worden ist. Danach gelten als klar
solche Vorstellungen, welche für die Wiedererkennung ihres Gegen-
standes und seine Unterscheidung von allen andern ausreichen, als
deutlich dagegen diejenigen, welche auch in bezug auf ihre einzel-
nen Teile und deren Verbindungsweise klar sind. Somit können
Vorstellungen zwar klar, müssen aber deswegen noch nicht deut-
lich sein. Wenn ich z. B. einen Menschen, der mir gelegentlich
begegnet ist, soweit aufgefaßt habe, daß ich ihn aus einer Menge
anderer herauszufinden vermag, so habe ich von ihm eine klare
Vorstellung. Aber damit ist es sehr gut vereinbar, daß ich
nicht imstande wäre, die einzelnen Züge seines Gesichts, die
Farbe seiner Augen oder Haare und ähnhclies anzugeben.
Dann wäre meine Vorstellung von ihm zwar klar, aber nicht
 
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