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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0017
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Die Hypothese des Unbewußten.

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keiten in einer unbewußten Konzentration, die erst in jedem ein-
zelnen Falle immer wieder von dem individuellen Bewußtsein
aufgerollt werden muß. Der große Herd für diese ganze Entwick-
lung ist die Sprache, und sie ist deshalb auch diejenige Erschei-
nung, worin das eigenartige Verhältnis des Bewußten zum Un-
bewußten seinen stärksten Ausdruck findet. Alle einzelnen Wörter
und alle Formen der Sprache sind getränkt mit einer Fülle von
Bestimmungen, von feinen Beziehungen, die durchaus nicht alle
bei dem jedesmaligen Gebrauch zur bewußten Anwendung kommen.
Überall schweben Obertöne und Untertöne, feine Anklänge be-
sonderer Bedeutung mit, die implicite zum Sinne der Rede gehören,
und obwohl es völlig ausgeschlossen ist, daß alles Einzelne davon
seinen gesonderten Ausdruck fände, so ist doch dies der gewaltige
Eindruck des Sprachlebens, daß die derselben Sprache Zugehörigen
sich gegenseitig vollständig zu verstehen vermögen. Es ist nur
möglich dadurch, daß in der Sprache ihr gemeinsames Gesamt-
leben seinen Ausdruck gefunden hat, und daß in jedem Individuum
diese unbewußten Zugehörigkeiten des bewußten Ausdrucks auf
gleiche Weise hervorgerufen und der Bewußtwerdung entgegen-
geführt werden.

Über dies sprachlich ausgeprägte Gesamtbewußtsein hinaus
haben wir empirisch keine Vorstellung von dem Verhältnis des
individuellen Bewußtseins zu jenen unbewußten Notwendigkeiten,
die es mit seiner Reflexion auf dem Grunde seiner eigenen bewußten
Funktionen aufzufinden vermag. Wenn die logische oder transzen-
dentale Betrachtung das Gelten jener sachlichen Notwendigkeiten
auf ein ,,Bewußtsein überhaupt“ zurückführt, so ist das nicht melir
eine psychologische und darf auch nicht eine metaphysische Hypo-
these sein. Freilich liegt es den Gewohnheiten des empirischen
Denkens nahe, solche sachlichen Notwendigkeiten, die sich als
unbewußte Bestandteile des empirischen Einzelbewußtseins mit
einer in allen gleichen Gesetzmäßigkeit aufweisen, auf ein über-
individuelles Bewußtsein zu beziehen, das sich zu allen möglichen
individuellen Seelen ähnlich verhalten sollte wie das soziale
Gesamtbewußtsein zum Individualbewußtsein. Aber zu dieser
metaphysischen Ausdeutung der Hypothese des Unbewußten fehlen
unserem empirischen Denken zureichende Gründe. Wir dürfen eine
solche Betrachtung nur als eine Analogie ansehen, mit der wir clie
Rätsel des logischen Geltens uns einigermaßen vorstellig zu machen
versuchen.

Sitzungsberichte d. Heidelb. Akademie, phil.-hist. Kl- 1914. 4. Abh.

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